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Dem Herrn mit dem Ziegenbart klappt glatt die Kinnlade runter, als eine Kellnerin das Essen vor ihm absetzt. Eben erst hat er die Bestellung aufgegeben und die Dame, die seine Wünsche aufnahm ist doch erst bis zum Nachbartisch gekommen. Ungläubig schaut sich der Besucher im Hof des Rathaus Köpenick um. Mit ihm wundern sich 700 weitere Gäste des Festivals Jazz in Town über Hexerei beim Service. Wolfgang Pinzl kontrolliert derweil gewogenen Schrittes die perfekte Umsetzung seines gastronomischen Funktionsgetriebes. Als Vorzeigegastwirt des Berliner Südostens füllt er inzwischen 24-mal jährlich mit einem exklusivem Programm aus Jazz und Blues sowie guter Küche den historischen Rathausplatz. Seit acht Jahren wächst das Festival stetig auf inzwischen über 16.000 zahlende Gäste jährlich. Selbst Schauspieler und Jazzpoet Manfred Krug, sonst eher geizig mit großen Lobreden auf andere, zeigt sich bei seinem bereits vierten Abstecher vor großem Publikum vor neogotischer Kulisse wohlgelaunt: „Von Wolfgang Pinzl kann sich mancher Gastronom hierzulande eine Scheibe abschneiden.“ Der Berliner Stadtteil Köpenick verdankt seine Bekanntheit maßgeblich einem Streich des 57-jährigen Schusters Wilhelm Voigt, der am 16. Oktober 1906 als Hauptmann verkleidet die Stadtkasse beschlagnahmt. Nach dem Mauerfall wird die Altstadt 1989 zu einem Filetstück des wiedervereinten Berlins erklärt. 14 Banken eröffnen eilig ihre Filialen am Rande der Spree, von denen acht inzwischen weitergezogen sind. Baulärm, ungeklärte Eigentumsverhältnisse, die Entfernung zur Innenstadt, mangelhafte Verkehrsanbindung und extreme Parkplatzarmut erschweren die Gewerbeansiedlung im schönen Inselstädtchen. Köpenick ist der grünste und der dünnbesiedelteste Berliner Bezirk, der Ratskeller mit Hof ein architektonisches Juwel – das meint auch Wolfgang Pinzl, als er 1994 seine geschäftlichen Ersparnisse wider äußere Umstände in das Restaurant mit Theater und Jazzkeller steckt. Pinzl denkt langfristig, das hat nichts mit den Fünfjahresplänen zu tun, die er als Außenhandelskaufmann der DDR pauken musste. Zunächst sammelt der junge Akademiker als Technischer Leiter im Palast der Republik Erfahrung. Als die Planwirtschaft zusammenbricht, übernimmt Pinzl die Führung einer Eckkneipe, die von 4 auf 14 Angestellte wächst. Er verdient nun „richtiges Geld“ und nutzt das neue Betriebskapital zur Expansion. Die Pacht der einzigartigen, aber abseits gelegenen Immobilie in Köpenick fordert Opfer: Der Ratskeller verschlingt während seines Wiederentstehens von 1994 bis 1997 immense Investitionen, Zeit und Nerven. Von Beginn an setzt Pinzl auf Jazz als Imageträger. Musik soll das Konzept von guter Küche zu bezahlbaren Preisen flankieren. Den Durchbruch bringt eine spontane Idee: Im Sommer bietet sich der Rathausinnenhof zu Konzerten an. Der erste Test vor vierhundert Besuchern bei bestem Wetter motiviert Pinzl zur nächsten Ausbaustufe. Der Ratskeller erhält eine Freilichtbühne samt Zapfanlagen. Schon 1999 besuchen über 6.000 Jazzfans die neue Veranstaltungsreihe bei inzwischen deutlich gestiegenen Preisen. Geboten wird traditioneller Jazz und Mainstream, dazu Essen und Trinken in gutbürgerlicher Atmosphäre. In dieser Größenordnung muss Musik kein Zuschussgeschäft bleiben. Pinzl verpflichtet zunehmend kostspielige Stars wie Paul Kuhn, Gitte Henning und Klaus Doldinger. Jahr für Jahr steigert er den Anteil von moderat interpretiertem Modern Jazz, unter Einsatz von aufwendiger und flächendeckender Werbung. Die Umstrukturierung des Festivals scheint möglich, weil das Publikum inzwischen schon Stunden vor dem eigentlichen Konzertbeginn auf den Bürgersteigen rund ums Rathaus Schlange steht – ein Phänomen. Wolfgang Pinzl wirkt zufrieden. Seit dem Millenniumtag hat er seine Umsätze annähernd verdoppelt, jedes Jahr bringt einen neuen Besucherrekord. 2003 investiert Pinzl in ein Schankhaus mit 22 Hähnen, in eines der modernsten Kassensysteme der Welt und in noch mehr programmatische Vielfalt. Mit Sennheiser kann er seinen ersten Industriesponsor an Land ziehen. Die achte Spielsaison nennt Pinzl deshalb mit breiter Brust „ein perfektes Festival“. Der Fachmann staunt, der Laie wundert sich: Im krisengeschüttelten Berlin liefert Jazz in Town eine Erfolgstory mit dem Seltenheitswert der Blauen Mauritius. Al Weckert |
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