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In seinen Konzerten hat er nie mit den Klängen gegeizt, sich ganz der Musik hingegeben und sich zugleich dem Publikum offenbart, sich beinahe verschenkt. Und er bekam all das auch zurück, wurde geliebt, kam nie von der Bühne ohne Zugaben. Michel Petrucciani, als Sohn eines italienischen Jazzgitarristen und einer Französin geboren am 28. Dezember 1962 in der Provence, litt von Kindheit an unter der seltenen Osteogenesis imperfecta, der sogenannten Glasknochenkrankheit, die ein normales Wachstum verhindert. So wurde er nur knapp einen Meter groß und musste bei Ungeschicklichkeiten oder Unfällen, bei denen andere blaue Flecke befürchteten, gleich mit dem Schlimmsten rechnen.
Mit enormer Willenskraft gelang es ihm, sich als ein Jazzpianist von internationalem Format zu profilieren. Anfangs als Wunderkind gefeiert hat er in den 80er- und 90er-Jahren eine erstaunliche musikalische Reife erkennen lassen. Früh vollendet, könnte man mutmaßen. Nein, Michel Petrucciani – gestorben, 36-jährig, an den Folgen einer schweren Lungenentzündung am 6. Januar 1999 in einem New Yorker Krankenhaus – wäre gern unter den Lebenden geblieben, hätte noch viel mehr geben können, als er ohnehin schon verschenkt hat. Wen die Götter lieben... Michel Petrucciani liebte seine Frau, ihr hat er seine Komposition „Love Letters“ zugeeignet. Doch wenn er dieses Stück im Konzert spiele, sagte er, sei dies zugleich auch eine Widmung an das Publikum. Rückblende in das Jahr 1995. Nach monatelangen Telefongesprächen mit einem französischen Agenten war uns gelungen, Michel Petrucciani für ein Konzert zu den Leipziger Jazztagen zu gewinnen. Natürlich wollte ich auch ein Interview mit ihm führen, fragte ihn nach dem Soundcheck, wann es ihm recht sei, und war verwundert, als er mir sagte, das liebste wäre ihm vor (!) dem Konzert. So saßen wir einander in der Garderobe gegenüber, und Michel kam ins Plaudern. So ein Gespräch käme ihm jetzt gerade recht, denn er sei immer entsetzlich aufgeregt vor seinen Auftritten. Wörtlich: „I hate it.“ Das Lampenfieber gehöre für ihn zu den schrecklichsten Dingen im Leben. Mit dem Handicap habe er lange gelernt umzugehen. Danach befragt, dass viele seiner Stücke von klangschönen, gesanglichen Melodien durchzogen sein, antwortete er: „Na ja, ich weiß nicht; ich glaube das ist mein italienisches Herz. Wir singen viel und sind vielleicht ein bisschen glücklicher, das liegt wohl im Blut.“ Und dann kam er auf seine Heldengestalten zu sprechen, auf Duke Ellington und Thelonious Monk, auf Bill Evans, auch auf Rachmaninow, Ravel, Debussy und Mozart. Und wie fast alle großen Jazzmusiker bekundete er seine Liebe zu Bach. Er wolle deutsch lernen, wieder kommen nach Leipzig und sich dann mit mir deutsch unterhalten. In seinem Spiel gehe es ihm darum, das Beste aus zwei Welten zu bewahren, aus dem Jazz und aus der Musik Europas: „Jazz ist eine afroamerikanische Kunstform; und ich bin ein Europäer mit all den klassischen Einflüssen; aber ich will das Ganze nicht ideologisieren. Ich bin ein Kind dieser Welt. Ich lebe in Amerika, in Paris und auf Reisen. Ich versuche, das Beste zu übernehmen und das Beste zu geben. Mir gefällt klassische Musik, aber eben nicht alles, weil ich nicht alles verstehe. Das ist im Jazz genauso. Ich bin kein Sektierer, der nur einen Stil akzeptiert. Ich mag Musik mit einem großen M.“ Zweimal in seinem Leben war Michel Petrucciani verheiratet, in erster Ehe mit einer Navajo-Indianerin. Von seinen drei Kindern leidet eines gleichfalls an der Glasknochenkrankheit. Dies war den Eltern bereits während der Schwangerschaft bewusst, und Michel Petrucciani bekannte in diesem Zusammenhang: „Ich glaube, dass das Leben wert ist, gelebt zu werden.“ Vielleicht hat er gar noch mehr gegeben, noch mehr geben wollen und können, weil er so gefährdet war. In seiner Musik ist alles zu hören: die Kraft dynamischer Steigerungen, die Anstrengung und die Verausgabung, aber auch das Wissen um die Besonderheit des Zarten, die Schönheit des Zerbrechlichen. Er wusste mit rasanten Tasteneskapaden ebenso wie nachdenklichen Balladen zu überzeugen. Und er erwies sich als sinnenfroh der Welt zugewandt. Die Freude und der Stolz, mit der er mir seine Rolex-Uhr präsentierte, hatte etwas Kindliches, aber beileibe nichts Protzendes. Eher schien er damit sagen zu wollen: Schaut an, ich muss doch etwas können, wenn ich mir so etwas leisten kann... Auch die Popularität, die er sich als Stammgast von „Willemsens Woche“ erspielte, hat er genossen – eine Popularität, die weit über die Kreise des Jazz hinausreichte. Im Alter von vier Jahren sah Michel Petrucciani eine Fernsehsendung mit Aufnahmen von Duke Ellington. Diese faszinierten ihn derart, dass er seine Eltern bettelte, ihm ein Klavier zu kaufen. Was er bekam, war ein Spielzeugklavier. Eines Tages hatte er dieses mit einem Hammer zertrümmert. Eine deutliche Sprache: seht mal, das genügt mir nicht, ich will ein richtiges Klavier. Auf einem solchen, allerdings mit speziellen Pedal-Vorrichtungen, gab er dann sein Debüt als Jazzmusiker in der Familienband der Petruccianis mit Vater Tony, Gitarre, und Bruder Louis am Kontrabass. Mit fünfzehn wurde er Berufsmusiker bei Kenny Clarke, mit siebzehn spielte er sein erstes eigenes Album ein. In Frankreich hörte man ihn mit dem Trompeter Clark Terry, auch im Duo mit dem Altsaxophonisten Lee Konitz. Anfang der 80er-Jahre ging Michel Petrucciani für längere Zeit nach Amerika. Dort besuchte er den Saxophonisten Charles Lloyd, der sich nach den großen Erfolgen seiner Gruppe mit Keith Jarrett meditierend in die Wälder zurückgezogen hatte. Charles Lloyd und Michel Petrucciani schlossen Freundschaft. Es war Michel Petrucciani, der Llodys langes musikalisches Schweigen, also seine Abstinenz, öffentlich aufzutreten, durchbrochen hat: ein kleinwüchsiger Mensch aus Europa, den Charles Lloyd wie ein Kind auf den Arm nahm und den er, der rund ein Vierteljahrundert Ältere, als einen musikalisch gleichberechtigten Partner verehrte. Michel Petrucciani hat mit vielen herausragenden Musikern des Jazz gespielt: mit Dizzy Gillespie, Joe Henderson, Wayne Shorter, Jim Hall, Charlie Haden, John Scofield, auch mit dem seinerzeit 88-jährigen Stéphane Grapelli. Klavier spielen, bekannte Michel Petrucciani, sei für ihn eine Kombination aus Gesang und Percussion. Wie sein Freund Charles Lloyd hätte er wohl am liebsten selbst gesungen. Doch das Klavier ermöglichte ihm dann, Nuancenreichtum, harmonischen Finessen und Klangsensibilität zu offenbaren. Besonders gern gab er Solo-Konzerte. „Allein am Klavier“, sagte er, „gehört dir die ganze Welt.“ Vieles in den Äußerungen und im Spiel von Michel wirkte schlicht, nicht naiv, sondern – vor allem in der Art, wie er es vortrug – beseelt von Emotionen. Der Weg mit Michel Petrucciani von der Garderobe bis zur Opernbühne mutete endlos an. Nie sind mir die großen Stahltüren hinter der Bühne dermaßen gefährlich vorgekommen wie bei diesem Gang. Sich mit kleinen Schritten vorwärtsbewegend, fluchte Michel noch einmal: „I hate it.“ Eine Art Hassliebe, eine Überwindung, ins Rampenlicht zu treten. Und schließlich: Standing Ovations und „Love Letters“. Bert Noglik
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