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Verrückte Welt! Die knappen Kassen drücken auf Geldbeutel und Berliner Wohlbefinden. Der Herbst liegt mit rekordverdächtigem Dauergrau über der Hauptstadt und wichtigstes Thema der Szene ist seit Wochen die einbrechenden Plattenumsätze. Als niemand damit rechnet, passiert das scheinbar Unerklärliche. Zwei Jazzspektakel mit Schwerpunkt auf improvisierendem modernen Jazz setzen schon im Vorverkauf den Großteil ihrer Eintrittskarten ab. Die Medien begleiten die zeitgleichen Anlässe wohlwollend wie selten. Der Auftritt einer lokalen Band – Die Enttäuschung – wird einhellig zu den Höhepunkten des Festivals gezählt, schlicht zum „Triumph“ erklärt. Wann hat es das zuletzt gegeben?
John Corbett, künstlerischer Leiter des JazzFest Berlin, bewies schlichtweg Weitblick. Die Begriffe Modern, Avantgarde und Improvisation benutzt er ohne relativierende Beiwörter. Sein Herz schlägt unübersehbar für Musik, nicht für Umsatzzahlen, Medienzugehörigkeit, Etikett oder erworbene Verdienste. Seine Vorstellung vom Jazz umfasst Musiker aller Generationen. Das Berliner Publikum kam in den Genuss von Jazzgiganten wie Roy Haynes und Jim Hall, die ihre einsame Klasse mit großer Menschlichkeit zu ihren Fans transportierten. Der radikale Aufbruch der 60er und 70er Jahre fand in Irene Schweizer, Milford Graves und Peter Brötzmann lebendige Zeugen, George Lewis und Joe McPhee übermittelten komplex entwickelte Improvisationskonzepte. Ein pures Klangerlebnis war die Musik Gianluigi Travesis, im Format der WDR Big Band Köln. Aber auch nachwachsende Größen wie Jason Moran and The Bandwagon, Ken Vandermark und Mats Gustafsson konnten Zeichen setzen. Von HipHop-, NuJazz-, Breakbeat- oder Hardcore-Einflüssen war allerdings im Gegensatz zum vorangegangenen Jahr nur am Rande zu hören. Die Berliner Morgenpost titelte bereits „Aufstand der Alten“, da setzte Schlagzeuger Nasheet Waits ein riesengroßes Ausrufezeichen. Als Drummer von Andrew Hill und Jason Moran transformierte er gleich zwei Konzerte mit ununterbrochener Polyrhythmik in die Sparte Sonderklasse. Während sich das JazzFest komplett in den Berliner Westen zurückzog und auch bei der Auswahl der Musiker und des Ambientes durch und durch vom Westappeal (Stilwerk & Co.) durchdrungen war, spielt sich das Total Music Meeting weiterhin auf den spartanischen Planken des Podewil im anderen Teil Berlins ab. Dort wurde schon zu Ostzeiten der Free Jazz kultiviert. Die Zeichen deuten darauf hin, dass diese Tradition weiter Bestand hat. Helma Schleif, seit zwei Jahren als Nachfolgerin von Jost Gebers mit der Bestandspflege und der Weiterentwicklung des Schallplattenlabels FMP betraut, entwickelt seit dem Ausstieg des Senats aus dem renommierten Off-Festival auf eigene Kosten eine neue Festivalkultur. Es war beeindruckend zu sehen, wie viel Zuspruch diese oft radikale Musik findet, obwohl am selben Wochenende sage und schreibe 90 Jazzkonzerte in Berlin statt fanden. Drei Tagen lang war das Total Music Meeting (keine Subvention) – ebenso wie das Jazzfest (offiziell 430.000 Euro Subvention) – nahezu ausverkauft. Bemerkenswert: Weil kein Budget mehr verfügbar war, deklarierten
Cecil Taylor und Tony Oxley ihr Konzert im Podewil als Hommage an den
verstorbenen Bassisten Peter Kowald und legten Samstag Nacht kurz nach
Mitternacht unentgeltlich los. Ihr fulminanter Auftritt versöhnte
das Publikum nach der vorangegangenen Aufführung von Tiziana Bertoncini
und Thomas Lehn, die aus einem Elektrobaukasten hochverstärkte Tinnitusgeräusche
über die P.A. schickten (laut genug um jede Bescherung vorzeitig
zu beenden). Dass der mediale Großmut nicht lange vorhält, ist Programm. Lautstark stänkert die TAZ unmittelbar nach Festivalschluss gegen die Benennung von Peter Schulze (Radio Bremen) als zukünftigen künstlerischen Leiter des JazzFest und Helma Schleif als Intendantin des Total Music Meeting. Die Frankfurter Rundschau sieht nun auch den Jazz durch die Globalisierung bedroht und Die Welt hält das JazzFest nur noch für eine Familienfeier mit Pflegeauftrag. Der Journalist und Impresario auf Zeit John Corbett aber reist nach Chicago ab und erinnert sich, wie sein nonkonformistisches Programm der Stadt Berlin respektabel den Herbst aufhellte. Albert Weckert |
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