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„Alles verwandelt sich mir in Klänge, in Musik: die Ansicht eines blühenden Baumes, oder der Gesang der Vögel“. Und in was für Klänge! Feinsinniger, brillanter, origineller als Dodo Marmarosa spielte kein weißer Pianist der 40er-Jahre Bebop. Doch Dodo Marmarosa hat die meiste Zeit seines Lebens fernab von Plattenstudios und Bühnen verbracht, von einem nervösen Leiden am Konzertieren gehindert. Vor vierzig Jahren verschwand er von der Blickfläche wie einst der ausgestorbene Dodo-Vogel, mit dem der schmächtige Pianist mit der vogelartigen Nase auf dem großen Kopf schon in der Schule verglichen wurde. Schon in seiner bis 1948 währenden Glanzphase neigte der Sonderling zu unerklärlichem Versteckspiel. Auf einer Tournee mit Artie Shaw war er einmal plötzlich verschwunden. Man entdeckte ihn zufällig beim Bügeln in einer chinesischen Wäscherei, von der er partout nicht wegwollte. Am 12. Dezember 1925 kam Michele, Michael, „Dodo“ Marmarosa in Pittsburgh zu Welt, der Heimstätte so origineller Pianisten wie Earl Hines, Mary Lou Williams, Ahmad Jamal und Erroll Garner. Letzterer war sein Schulfreund, mit dem er schwänzte, um Sessions zu veranstalten. Anders als der schwarze Autodidakt Garner kam Marmarosa aus einer italienischen Mittelklasse-Familie und lernte Notenlesen, hörte Opernplatten und übte täglich eine Czerny-Etude. Dodo machte sich einen Spaß daraus, Bachs Inventionen in doppelter Metronomzahl zu üben. Mit 15, als er in die Band von „Scat“ Davis kam, soll der junge Profijazzer schon seine schier unglaubliche Technik besessen haben. Er brauchte kein Tempo zu scheuen – eine ideale Voraussetzung für den aufkommenden Bebop. Im Gegensatz zu den meisten Boppern hatte der blitzsauber artikulierende Pianist zwei gleichermaßen virtuose Hände – ein Erbe des niemals verleugneten Einflusses von Klassik, Stride-Piano, Tatum und der quasi-orchestralen Solistik Garners. Doch ein auftrumpfender Salon-Löwe wurde der verträumte Dodo nie. Der seine Fähigkeiten sparsam und diszipliniert einsetzende Pianist verdiente erst einmal bei führenden Orchestern seine ersten Sporen: 1942 engagierte ihn Gene Krupa, 1943 machte er bei Charlie Barnet seine ersten offiziellen Aufnahmen, unter anderem The Moose. Barnet erinnerte sich, dass Marmarosa einmal ein kleines Klavier von einem Balkon hinunterwarf, weil er neugierig auf den beim Aufprall entstehenden Akkord war. Marmarosas Nachfolger bei Barnet war übrigens Al Haig, der andere große weiße Bebop-Pianist. Mit 18 war er laut Teddy Edwards „close to genius“. Doch dann passierte etwas Einschneidendes: Der für den Militärdienst als untauglich befundene Marmarosa wurde von Matrosen, die ihn für einen Wehrdienstverweigerer hielten, so brutal zusammengeschlagen, dass er 24 Stunden im Koma lag. Der sensible Junge litt zeitlebens an den schweren psycho-physischen Folgen. Auch seine pianistischen Qualitäten sollen darunter gelitten haben – ein kaum nachprüfbares Faktum. 1944 setzte er seine Laufbahn bei Tommy Dorsey und Artie Shaw fort. Vor allem in Shaws Combo „Gramercy Five“ kam sein elegantes Spiel zur Geltung. Bei Shaw interpretierte Dodo laut Barney Kessel alle schnellen Stücke als Balladen und umgekehrt. Der Gitarrist berichtet: „Er war einer der brillantesten Musiker der Periode. Ganz anders als die meisten Bopper brachte er klassische Disziplin in seine Musik. Das erste, was er mir vorspielte, war die Revolutions-Etude. Als ich meiner Bewunderung Ausdruck verlieh sagte er: ‚Wenn Dir das gefällt, habe ich eine 13-jährige Schwester, die das viel besser kann.’“ Ende 1945 kommt er zum progressiven Orchester Boyd Raeburns nach Kalifornien
und gehört dort zu den Westküsten-Boppern der ersten Stunde.
Hier wirkt er bald an legendären Combo-Aufnahmen, unter anderem von
Saxophonisten wie Charlie Parker (Moose The Moche), Lester Young, Lucky
Thompson, Sonny Criss und Wardell Gray, mit. Aus dieser Zeit gibt es eine
Fülle von Anekdoten, die zeigen, wie sich Dodo selbst seinem beginnenden
Ruhm entgegenstellte: Nach einem Auftritt mit Raeburn, legte er sich einmal
nicht ins Bett, sondern setzte sich vor den Spiegel, um Grimassen zu schneiden.
Am nächsten Morgen stellte man fest, dass er immer noch vor dem Spiegel
grimassierte. Sein Frühstücksbrot verfütterte er an die
Tauben. Als die anderen Musiker längst im Bus saßen, kostete
es Raeburn viel Mühe, Dodo zum Mitfahren zu bewegen. Er hatte beschlossen
sich Pferde zu kaufen, und nur noch zurückgezogen mit Vögeln
und Tieren zu leben. Zu jener Zeit war der Mann mit den großen Ohren
für harmonische Zusammenhänge übrigens noch bekannter als
etwa Thelonious Monk oder Lennie Tristano. Seine Trio-Aufnahmen des Jahres
1947, bei denen Harry Babasin das im Jazz unübliche Cello wie einen
Bass einsetzte, brauchen sich hinter denen Bud Powells nicht zu verstecken
(Dodo’s Bounce). Nebenbei wurden eigentümliche impressionistische
Tone Paintings mitgeschnitten, freie Improvisationen, welche die verträumte
Kehrseite des nervösen Beboppers zeigten: Marmarosa war ein Träumer,
der von allen Klängen magisch angezogen wurde, der wie angewurzelt
stehen blieb, nicht weitergehen konnte, wenn Kirchenglocken läuteten
und der manchmal ganze Nächte wach blieb, um auf das erste Vogelgezwitscher
zu warten, das er barfuß im Tau vor der Wohnung anhörte. Jahrzehnte lang gilt Marmarosa als verschollen. Vor Journalisten, die auf seine Spur kommen, lässt er sich verleugnen. Vor 10 Jahren erschienen bereits Nachrufe, weil der Pianist einem Anrufer erzählte, Dodo Marmarosa sei am Vortag verstorben. Seinen Lebensabend verbringt er in einem Armee-Veteranenheim in der Nähe von Pittsburgh. Der Musikwissenschaftler Fabian Grob, der gerade an einer Dissertation über Marmarosa arbeitet, teilte mir kurz vor dessen Tod mit, dass Marmarosa neben Diabetes auch Anflüge von Parkinson habe und tagsüber meist in einem Rollstuhl sitzt. „Die rechte Hand scheint einem starken Tremor ausgesetzt zu sein, der aber seltsamerweise verschwindet, wenn er sich an das Klavier im Aufenthaltsraum setzt, um zu spielen, was er offensichtlich noch regelmäßig tut. Von den übrigen Heiminsassen scheint niemand etwas von Marmarosas musikalischer Vergangenheit zu wissen.“ Dort ist Marmarosa am 17. September einer Herzattacke erlegen. Stirbt ein Musiker seines Ranges, setzt man gerne hinzu, wie man ihn vermissen wird. Den längst tot Geglaubten haben wir bereits 40 Jahre lang vermisst! Hoffentlich wird Dodo Marmarosa die gebührende Anerkennung als einer der größten Pianisten der Jazzgeschichte noch posthum zu Teil. Marcus A. Woelfle |
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