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Das erste, das dem hingebungsvollen Jazzfan in den Sinn kommt, wenn er an Hochwasser denkt, sind natürlich weder Elbe (außer er wohnt in, sagen wir, Dresden), Isar (vielleicht in Freising), noch der Rhein, selbst der Mississippi nicht, es ist Bessie Smiths Aufnahme ihres „Backwater Blues“ vom August 1927. In dem Lied nimmt sie das große Sommerhochwasser jenes Jahres – und so kommt der Mississippi doch wieder ins Spiel – zum Anlass zurück- und hinabzusehen auf das Land ihrer Heimat:
In diesem Jahr war es der Hurrikan Katrina, weniger der anschwellende Mississippi, der Louisiana Land unter setzte. Er trieb die Wasser des Golfs von Mexiko und des Lake Pontchartrain dazu, New Orleans zu überschwemmen. Es gibt dort kaum Hügel, um das überschwemmte Land betrachten zu können, aber denken wir uns auf einen der Wolkenkratzer im bescheidenen „Central Business District“, dem in den Sechzigern und Siebzigern hochgezogenen Geschäftsviertel, das auf dem früheren Schwarzenghetto entstand, in dem Louis Armstrong geboren wurde, und sehen hinunter auf das viele Wasser. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Dämme brachen und die hereinbrechenden Fluten reiche Beute unter den Armen der Stadt fanden. Seit Beginn ihrer Geschichte leiden New Orleans und seine Bewohner unter der Korruption ihrer Bediensteten. Es liegt nahe, auch hinter dem jüngsten Desaster vielerorts dieses Unwesen zu vermuten. Zur Korruption kommt die Lage der Stadt, die sie für Überschwemmungen besonders anfällig macht. New Orleans ist eingezwängt zwischen Wasser – dem Mississippi einerseits, dem Lake Pontchartrain andererseits, dazu der nahe Golf – auf einer Höhe, die etwa dem Meeresspiegel entspricht. Die viel besichtigten Friedhöfe der Stadt mit ihren über der Erde liegenden Steinmausoleen sind kein Zufall. Nur allzu bereit ist der hohe Grundwasserspiegel, die Toten in die Gegenwart zurückzubringen. Gar unter der Erde haben sie keinen Platz. Eine der ersten Meldungen, die wir Europäer von der Katastrophe hörten, war denn auch die von den Steinsärgen, die durch die überschwemmten Straßen trieben. Ein passendes Bild: die Natur macht in der Katastrophe noch einmal die Kultur und Tradition dieser eigenartigen Stadt präsent. Wenn wir Europäer über Kultur nachdenken, kommen uns gerne alte Dinge in den Sinn, über die wir unseren kulturellen Stolz schütten. Botticellis „Frühling“, Homers „Ilias“ oder der Kölner Dom. Dinge, deren Kultur in Stein geschlagen scheint, ewig in die Erinnerung der Menschheit gebrannt. Es mutet uns fremdartig an, wenn amerikanische Touristen in New Orleans einfallen, weil es dort neben Mardi Gras, Jazz und der Möglichkeit, öffentlich Bier zu trinken, so viel alte Kultur zu sehen gibt – die zentrale St. Louis Cathedral von 1794 (in den 1850ern wieder aufgebaut), das Beauregard-Keyes House von 1827 oder das Gallier House von 1858. Überhaupt: eine Stadt, so alt, dass es dort zweisprachige Straßenschilder gibt, die auf eine Zeit vor den USA verweisen (New Orleans und der Staat Louisiana gehörten, bis sie von den USA 1803 gekauft wurden, zuerst zu Frankreich, dann zu Spanien, dann wieder zu Frankreich), das riecht nach einer Kultur, die verdächtig europäisch ist. Aber New Orleans ist weniger europäisch als karibisch. Was in ihr nach spanischen und französischen Traditionen aussieht, ist gebrochen, durch die Hitze des Südens und die selbstverständliche Nähe afroamerikanischer Kultur.
Für uns Europäer sieht das Alte ohnehin nicht so alt aus, ist allein der Gedanke, ein 1858 erbautes Haus historisch zu nennen, fremd. Die Kultur der Stadt hat für uns (wie auch für die Leute in New Orleans selbst) mehr mit lebenden Dingen zu tun. Wenn es gelingen wird, New Orleans wieder sinnvoll zu besiedeln – und das heißt, mit seinen reichen, aber auch mit seinen armen Bewohnern, mit der ganzen multikulturellen Mischung, die der Stadt ihre Eigenart gibt – nur dann wird die Stadt nicht ein für Touristen hergestellter „Theme Park“ sein, sondern wieder zum Leben erwachen. Es ist eine Stadt, in der Vorurteile gegen die kulturlosen USA sehr schnell fallen können, eine Stadt, in der Kultur auch heißt, gut zu kochen und zu essen. Das bekannteste Gericht aus New Orleans mag „Red Beans and Rice“ sein, das traditionelle Montagsessen bei Louis Armstrong und anderen Musikern aus New Orleans. Doch die für die Kultur der Stadt typischste Kreation ist Gumbo, ein Gericht, das neben Okraschoten allerlei anderes Gemüse, Hühnchen und diverse Meeresfrüchte enthält. Hier kommt zusammen, was der Ort und seine Umgebung hergeben, alles mischt sich und vereinigt sich zu einem Geschmack, der einzigartig und dabei doch charakteristisch ist, der beim nächsten Mal ganz anders sein kann, und doch immer nach New Orleans gerät. Der Dichter Ishmael Reed beschreibt das Gericht mit dem Satz: „Das Verhältnis der verwendeten Zutaten hängt vom Koch ab!“ Die Eigenarten dieser Stadt mischen sich erst im Auge und Geschmack des Betrachters ganz. Das Jahr, das ich – vom Sommer 1990 bis Sommer 1991 – dort verbrachte, zeigte mir eine Stadt, deren Widersprüche einem körperlich nahe traten: der Räuber, der einem nahe dem Grab der Voodookönigin Marie Laveau sein schweres Kaliber entgegenstreckte, die Kombination aus Tante-Emma-Laden und Waschsalon, rund um die Uhr geöffnet, die schier unglaublichen Leibesumfänge, die vor einem auf den Straßen daherwatschelten, schwarze Kinder in Sozialhäusern, die zufällig vorbeikommende Weiße mit Steinen bewerfen. New Orleans ist unglaublich, aber wahr, doch ist es das nicht in seinen Gebäuden, sondern in seinen Menschen. Auch seine Menschen sind eine Herausforderung für uns Europäer, die oft sehr klar begrenzte Vorstellungen von Kultur und ihren Grenzen haben. Hier begegnen einem schier unglaubliche Leute: Fotografen, die ihre Sonntage damit verbringen, Jazz Funerals in der Stadt zu „jagen“, Musiker, die den modernen Jazz in die Stadt gebracht haben, während sie zugleich Dr. John und Tina Turner produzierten, Jazzkritiker, die einem entgegenwerfen, dass Duke Ellington nichts mit Jazz zu tun hat, Historiker, die behaupten, „Jazz“ sei natürlich wie alle Musikbezeichnungen ein italienisches Wort, das mit Afrika nichts zu tun hat. New Orleans und seine Leute zeigen, wie Kulturen zusammenkommen und einen neuen Begriff von Kultur definieren, in dem die Aktion des Begegnens zumindest so wichtig ist wie das Resultat dieser Begegnung. Die Stadt und ihre Menschen faszinieren, sie verwirren, sie provozieren und lassen einen umdenken – eine Tradition, die auch Katrina nicht ertränken wird. Stephan Richter |
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