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Der ältere Sigmund Freud schrieb – wie er meinte: von Erfahrungen belehrt – seine Trieblehre um. Der Mensch war in seinem dualistischen Konzept jetzt der Kriegsschauplatz, auf dem die Mächte des Lebens und die Mächte des Todes, Eros und Thanatos, Libido und Destruktionstrieb um die Vorherrschaft stritten. Was sich hier als späte anthropologische Einsicht formulierte, war der Reflex, psychoanalytisch gesprochen, die Wiederkehr der kulturphilosophischen Grundpositionen des späten 19. Jahrhunderts, also der Zeit, die Freud geprägt hatte. Décadence oder Vitalismus, darauf lief das Lebensgefühl des unruhig und extrem gewordenen Bürgertums hinaus. Und viele, wie der Protagonist des Zeitalters Friedrich Nietzsche, waren beides: neurasthenische Décadents und vitalistische Kraftprotze. Was den Musik- und kritischen Gesellschaftstheoretiker Theodor W. Adorno am Jazz so störte, war nicht zuletzt die Tatsache, dass er exemplarisch und buchstäblich ein Kind dieses zerrissenen Zeitalters war. Der Jazz beginnt, in New Orleans (und anderswo), als Begräbnis- und als Festmusik, als Grundsound der Mächte des Lebens wie des Todes, als noch im äußersten Pessimismus schrilles Requiem und als orgiastisch-scheppernde Feier des Lebens. Der Ur-Jazz beschwor die archaischen Ur-Mächte des Lebens und er war, ganz egal ob gerade Eros oder Thanatos im Spiel waren, eine marschierende Musik, das Stampfen der Füße gab den Takt vor. Adorno störte daran, was er als Verschwinden, ja als Zerstörung des Subjekts empfand, die transindividuell-rauschhafte Beschwörung des Lebens und des Todes, in welcher der Einzelne unterging, zum bloßen Ornament der Masse wurde. Was Adorno, die späteren Erfahrungen dieses Katastrophenjahrhunderts vor Augen, irritierte, war die Verlagerung der Musik, die eben noch unendliche Melodie und zunehmend dissonantes Rauschen war, in die ekstatischen Körper, die Feier einer Freiheit, die das „komplexe” bürgerliche Ich und seinen bewussten Willen löschte. Adorno verabscheute nicht nur den Jazz, sondern er mochte, aus ganz ähnlichen Gründen, auch Strawinsky nicht: im Vorrang des Rhythmischen bei diesem „Feuervogel” der Moderne sah er den Sound der militärischen Formationen und der großen industriellen Maschine am Werk. Selbst seine Skepsis den amerikanischen wie den russischen Avantgarden der 20er- und 30er-Jahre gegenüber galt einem Synkretismus, der vor allem auf große Effekte setzte und das archaische Unbewusste und die futuristisch-transhumane Maschine zum Subjekt enthemmter Aktionen machte. Die Musik als Wunsch-Maschine: das kehrte in den Beatnik-Poemen der 50er-Jahre wieder, die den reinlichen, klimatisierten Alptraum Amerika, den eben noch Henry Miller in einem großen Reise-Erfahrungs-Bericht dokumentierte, wild, schmutzig, leidenschaftlich (und sehr, sehr konservativ im Sinne Walt Whitmans, Thoreaus oder Ralph Waldo Emersons) aufbrachen. Die Suche nach dem wahren Amerika in Jack Kerouacs Sehnsuchts-Odyssee „On the road” war auch eine Recherche, die dem verlorenen Körper und der zu Tode reglementierten Freiheit galt. Und das Innerste dieser ur-amerikanischen Reise war der neue, alle Konventionen zerstörende Jazz eines Charlie Parker, der noch nicht Hirn- (wie später im „free” der 60er-Jahre), sondern Körper-, Herz- und Seelenschwitzen war. Das rauschhafte Erlebnis der langen Fahrten durch ein vergessenes Amerika konzentrierte sich in der Begeisterung über die Bebop-Konzerte, in deren Körpermusik die neuen Freiheitssounds schon gegenwärtig waren: eine kochende Utopie, eine heiße Idylle. Im „summer of love” 1967, als es, wie schon in der Beatnik-Ära der frühen 50er, „alle”, also alle, die ein anderes Leben, einen anderen Zustand ersehnten, nach Kalifornien zog, war der Jazz nur noch dunkles Herz, ein ferner beunruhigender Klang. Die Freiheitssounds nahmen andere Formen an: während die Free Jazzer in ihren Kellern oder im europäischen Exil immer „bleicher”, aber auch interessanter wurden, entdeckten die Beach Boys auf den in der Sonne glitzernden Wellen des Pazifischen Ozeans eine neue „frontier” und in den Surfern die künftigen Pioniere: Naturburschen, die aber eine medikamentös-psychedelische Erweiterung des Bewusstseins und Beschleunigung des Herzens nicht scheuten. Die „Doors” benannten sich nach einem Drogen-Text des berühmten Romanciers Aldous Huxley, der die „Pforten der Wahrnehmung” öffnen wollte. Und das „break through to the other side” wurde zum Leitmotiv einer enthemmten Ära, die den körperlichen Exzess als die Wahrheit des existenzialistischen Verlangens nach Grenzüberschreitung sah. So wie aber schon für den späten Freud das Begehren sich verdüsterte, so klangen auch in den Songs und Sounds dieses „summer of love” die Paradieses-Visionen zunehmend brüchig, ja höllisch. Grace Slick etwa, schamlose Frontfrau der Kultband „Jefferson Airplane” und dunkle Diva der freien Liebe, entwickelte in dem LSD-Lied „White Rabbit” ein somnambules Szenario, eine „all that jazz”-Variante von Alice in Wonderland. Und „Velvet Underground”, vom Pop-Art-Mastermind Andy Warhol aus dem Geist von Free Jazz und Minimal Music (John Cale!) als dernier cri und radical-chic-Produkt seiner legendären “Factory” kreiiert, besang die “Venus in Furs”, also eine äußerst fetischistische Freiheits- beziehungsweise Enthemmungs-Variante. Das Erbe der Beatniks fand sich noch am ehesten bei Tim Buckley und seinen prekären Hobo-Hymnen. Bei einem Song wie „Morning Glory” stellt man sich unwillkürlich vor, was passiert wäre, wenn er Charlie Parker auf einem der Bebop-Events begegnete, die Jack Kerouac zu verstreuten Zentren seiner Roman-Phantasie eines möglichen „anderen” 20. Jahrhunderts macht. Helmut Hein |
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