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Solveig singt nicht mehr in häuslicher Abgeschiedenheit, sondern in den Medien. Sie hat Schwestern bekommen, manchmal meint man gar Zwillingsschwestern zu vernehmen. Sie alle klingen rein und künden auch in gänzlich anderer Klanggestalt noch immer ein wenig von skandinavischer Innerlichkeit. Eine Klischeevorstellung? Dass viele der neuen Stimmen im Umkreis von Jazz und Pop aus dem Norden Europas kommen, lässt sich nicht mehr als Zufalls-Phänomen abtun.
Nach Caecilie Norby und Sidsel Endresen kamen Silje Nergaard, Beate Lech, Susi Hyldgaard und Rebekka Bakken... In beinahe regelmäßiger Folge tauchten (zumindest für uns) neue Namen auf: Sara Isaksson, Rigmor Gustafsson, Viktoria Tolstoy, Torun Eriksen... Kein Ende abzusehen, die Schönen aus dem Norden rücken nach und schnellen an die Spitze der Charts. Was wir da wahrnehmen, ist nur die Spitze eines kreativen Eisbergs. Die Genannten und noch rund ein Dutzend andere, die nicht mit gleicher Power promotet werden, gleichwohl Talent und Originalität offenbaren, stammen alle aus Skandinavien. Und wo kommen sie her, was die Basics, die Roots anbelangt? Eher aus dem Umfeld der Pop-Musik als aus den Gravitationszentren des Jazz. Eine Generation, die mit allen Arten von Musik aufgewachsen ist und in deren Erfahrungsspektrum Jazz eher als Beimengung denn als Essenz auftaucht, findet zu anderen Ausdrucksweisen als eine Sängerin wie Karin Krog, die bereits in den sechziger Jahren zum Inbegriff des neuen skandinavischen Jazzgesanges wurde und sich damals von Musikern wie Dexter Gordon und dem jungen Jan Garbarek inspirieren ließ. Doch neben Jazzsängerinnen wie Karin Krog und Monica Zetterlund kamen aus Skandinavien immer auch jazzinspirierte Vokalistinnen ohne Scheu vor dem Populären, gar ohne Berührungsängste mit dem Schlager; denken wir an Alice Babs oder Sylvia Vrethammar. Die musikalischen Enkelinnen von Karin Krog und Alice Babs haben vor dem Fernseher den Grand Prix d’Eurovision de la Chanson verfolgt, sind mit Police und Björk aufgewachsen, haben sich von HipHop und Drum ’n’ Bass faszinieren lassen. Doch irgendwann entdeckten sie den Jazz, bekamen sie eine Ahnung davon, worum es in dieser Musik geht: Individualität. Das hat mit Reife zu tun und lässt sich nicht im schnellen Vorlauf einholen, bedarf neuer, eigener Zugänge. Die großen Sängerinnen in der Tradition des Jazz haben sich am Repertoire des Great American Songbook abgearbeitet und oft mit der Gestaltung von Nuancen die Tiefe ihre Seelen mitgeteilt. Die improvisierenden Stimmen in der Folge des Free Jazz trennten sich von allen Verbindlichkeiten, brachen aus und auf in die Räume der freien Expressivität. Was wir nun erleben, gleicht einer Wiederentdeckung des Songs, eine gefällige, doch durchaus ambitionierte Symbiose aus Singer-Songwriter-Traditionen, Jazz, Chanson, Folk und Pop. Kurz gesagt: das Norah-Jones-Syndrom. Und obwohl sich heute in der grenzenlosen Welt der Musik und des Musikgeschäftes kaum etwas mehr regionalisieren lässt, führen viele Fäden nach Skandinavien und spannen sich von da aus nach New York und anderswohin. Rebekka Bakken bekennt, sich erst in New York frei entfaltet zu haben, sich zugleich aber gerade dort ihrer skandinavischen Roots bewusst geworden zu sein. Silje Nergaard ist in New York aufgewachsen, andere, beispielsweise Rigmor Gustafsson, haben dort Lehr- und Wanderjahre verbracht. Sie alle schreiben eigene Songs, eigene Melodien und eigene Texte. Poesiealben einer neuen Sensibilität. Kein Kitsch, aber auch nicht die Dimensionen eines Lars Gustafsson. Immerhin, Rebekka Bakken hat gemeinsam mit Julia Hülsmann E. E. Cummings zum Klingen gebracht. Anders als Lena Willemark, Agnes Buen Garnas oder Mari Boine sonnen sich die neuen nordischen Sirenen nicht im Folkloristischen. Sie mischen es allenfalls als Spurenelement bei. Die Bezeichnung „Pop“ hat für sie nichts Pejoratives. Für Puristen ist das alles sowieso nicht gedacht. Größte Gefahr für die Stimmen, könnte deren inflationäres Vorkommen werden. Und auch gegen eine drohende Austauschbarkeit gibt es nur ein einziges Mittel. Siehe oben: Individualität. Was schön klingt, sollte auch schön aussehen und umgekehrt. Die Erscheinungsbilder sind erotisch, aber nicht lasziv, mehr als Oberflächliches versprechend, aber nicht abgründig. Das sind keine Girlies mehr, die uns da begegnen, aber natürlich, das kann gar nicht anders sein, auch keine Sängerinnen mit der Lebensweisheit einer auf all die Jahre zurückblickenden Abbey Lincoln. Klanglich schaffen sie sich eigene Umgebungen, in dem in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen mitunter auch Anteile von Ambient und NuJazz auftauchen. Musiker wie der Pianist und Keyboarder Bugge Wesseltoft und der Posaunist Nils Landgren erweisen sich als Talent-Scouts. Wesseltoft, der sich souverän zwischen Electric-Konzepten und akustisch ausgestalteten Lieder-Alben im Duo mit Sidsel Endresen bewegt, hat sich als Produzent der jungen Torun Eriksen angenommen. Landgren ist der große Universalist, gleichermaßen zu Hause im Jazz und in der Welt der „Funk Unit“, in den Bereichen der leisen Balladen, „Sentimental Journey“, und des Folkloristischen, „Swedish Folk Modern“. Landgren nahm Rigmor Gustafssen unter seine Fittiche und produzierte das aktuelle Album von Viktoria Tolstoy. Immer wieder knüpft er Verbindungen zwischen unterschiedlichen Musikerkreisen und Genres. Auf „Shining On You“ mit Viktoria Tolstoy berühren sich zwei unterschiedliche Zirkel musikalischen Erfolgs: der des Esbjön Svensson Trios mit dem der New Scandinavian Voices. Worum geht es? „Shining On You“ verrät es bereits im Untertitel: Viktoria Tolstoy sings the muisc of Esbjörn Svensson. Dieser hat bekanntlich mit gänzlich eigenen Spielkonzepten einer Spezies neues Leben eingehaucht, von der manche bereits glaubten, sie sei hinsichtlich ihrer Klangmöglichkeiten ausgereizt: der des Klaviertrios. Die Renaissance des Klaviertrios zählt zu den ebenso erstaunlichen Phänomenen im Jazz der Gegenwart wie das Aufleuchten all der neuen Stimmen. Im jazzklassischen Format mit Piano, Bass und Schlagzeug entstehen immer noch und immer wieder wechselnde Klangbilder und Spielverläufe: von Esbjörn Svensson bis zu The Bad Plus und weiter zu Trios hierzulande, beispielsweise um Jürgen Friedrich, Florian Ross oder Karsten Daerr. Nun gewinnt man beim genannten Album von Viktoria Tolstoy nicht unbedingt den Eindruck, der Essenz der Musik des Esbjörn Svenssons Trios wiederzubegegnen. Doch darum geht es wohl auch nicht unbedingt. Es geht um das, was man in nicht unbedingt gutem, aber mittlerweile alltagstauglichen Deutsch „Verlinkung“ nennt. Mitunter geht es auch um Jazz für Leute, die Jazz nicht unbedingt mögen. Mit „Funky ABBA“ geht Nils Landgren einen Schritt weiter. Er adaptiert die Songs einer der erfolgreichsten skandinavischen Popgruppen aller Zeiten für seine Funk Unit. Jazzverrat? Wohl nur für eine kleine Gemeinde von moralisierenden Gralshütern. Die Vielfalt des Jazz hat sich durchgesetzt, auch gegenüber Kritikern, die seinerzeit die Musik von Ornette Coleman als Anti-Jazz bezeichneten. Die avantgardistischen Phänomene gehören ebenso dazu wie die populären, obwohl sich letztere natürlich sehr viel besser vermarkten und verkaufen lassen. Aufgesetzt? Nicht zu ignorieren ist der biographische Bezug Nils Langrens zur ABBA-Musik: Bereits vor fünfundzwanzig Jahren hat er, damals blutjung, auf Wunsch von Benny Anderson bei der Aufnahme des Hits „Voulez-Vous“ als Posaunist mitgewirkt. Wird nun im Coververfahren daraus Jazz? Das gewiss nicht, doch Funk wohl schon. Und weiter gefragt: Sind die neuen Sängerinnen aus Skandinavien überhaupt noch dem Jazz zuzuordnen oder entsteht da ein neues Genre populärer Musik? Kann dessen Erfolg den Zulauf zum Jazz befördern oder verfranst es diesen mit allem Möglichen? Immerhin, im Jazz hat es nie Reinheitsgebote gegeben. Und vieles, was über den Jazz hinausreicht oder an ihm vorbeiläuft, ist ohne dessen Inspirationskraft nicht vorstellbar. Mit freundlicher Genehmigung von Triangel
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