Anzeige |
|
|
Anzeige |
|
Ich habe mich in meinem Leben schon mit den verschiedenartigsten Formen von Musik beschäftigt. Aber in einer Hinsicht bin ich immer wieder zum selben Ergebnis gekommen: von allen Musikformen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind, ist der Jazz die spannendste, vielfältige, mitreißendste… – mit einem Wort die wichtigste. Warum sehen das nicht alle Menschen so, zumindest diejenigen, die sich für Musik interessieren? Da haben wir schon das erste Problem. Viele Menschen hören zwar gerne Musik, aber sie interessieren sich eigentlich gar nicht besonders dafür. Sie suchen Abwechslung, Unterhaltung, eine Märchenwelt (die Opernliebhaber und die Popfreunde), Protest (die Rockfans), aber sie wollen nicht wissen, wie ein Musikstück aufgebaut ist und worauf es beim Musikmachen ankommt… Sie gleichen dem Autofahrer, der keine Ahnung vom inneren Aufbau und vom Funktionieren seines Fahrzeugs hat (das wenige, was er für die Fahrprüfung brauchte, hat er schon längst wieder vergessen). So kommt es, dass viele Musik lieben, aber eigentlich nichts von ihr verstehen. Sie wissen Namen und Musiktitel, so wie sie Marken und äußere Merkmale von Autos kennen. Feinheiten ignorieren oder übersehen sie. Keine Lust, keine Zeit… Aber gerade auf Feinheiten kommt es in der Musik an – und ganz besonders beim Jazz. Aber es gibt beim Jazz noch spezielle Probleme: 1. Der Jazz ist von Anfang an vor allem Instrumentalmusik gewesen und ist es bis heute geblieben. Wer Musik in erster Linie in gesungener Form liebt, kommt bei anderen Formen mehr auf seine Rechnung. 2. Seit der Entstehung des Bebop, also seit den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts, hat sich der Jazz immer mehr von einer Musik zum Tanzen entfernt. Wer gerne tanzt, tut dies heute bei anderer Musik. Allerdings kann man im Prinzip zu jeder Art von Musik tanzen, selbst wenn ihr kein konstantes Tempo zugrunde liegt. Berufstänzer, Choreographen und Tanzlehrer haben sich in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig mit dem Jazz beschäftigt – ein großes Versäumnis. 3. Die Improvisation im Jazz – ausgefeilt wie in keiner anderen Musikform - verwirrt viele Hörer. In der Schule haben sie davon nichts gehört. Und später hat ihnen auch niemals erklärt, wie und warum improvisiert wird. Selber haben sie sich allerdings auch nie um Aufklärung bemüht. 4. Viele, die etwas gegen Jazz haben, müssen bei näherem Befragen zugeben, von anderen beeinflusst worden zu sein, die etwas gegen Jazz haben, die wiederum von anderen beeinflusst worden sind. Sie gleichen jemandem, der – sagen wir – Weißwürste nicht mag, aber nie welche gegessen hat. Dass jeder immer wieder einmal Jazz hört, ohne zu wissen, dass es Jazz ist, ändert daran nichts. Nur durch bewusstes Hören kommt man der Musik auf den Grund. Und wenn es sich dann noch um irgendwelche viertklassigen Musiker handelt, nützt mir das überhaupt nichts – im Gegenteil: schlechte Musik verklebt die Ohren, und ich muss sie erst wieder freibekommen. Viele Menschen laufen mit verklebten Ohren herum und wissen es gar nicht. Die Beschäftigung mit dem Jazz schult nicht nur das Gespür und das Wissen über Rhythmen, Klänge, Melodien und Akkorde und das Verständnis der komplexen Zusammenhänge zwischen ihnen; der Gewinn ist noch um vieles größer: 1. Der Zusammenhalt zwischen den Musikern und das Aufeinanderhören und -reagieren ist in einer guten Band sehr ausgeprägt. Das ist vor allem beim gleichzeitigen Improvisieren wichtig, dem Normalfall: ein improvisierender Musiker wird von gleichzeitig improvisierenden Musikern begleitet, deren Freiheitsgrad aber geringer ist als seiner. Das impliziert Respekt gegenüber dem Solisten: man begleitet ihn so, dass er dadurch inspiriert wird und man ihm nicht in die Quere kommt. (…) 2. Die Reaktionen zwischen den Musikern müssen aber möglichst ohne Verzögerungen erfolgen. Mithin wird auch die Reaktionsschnelligkeit trainiert. 3. Ob das, was festliegt, bevor die Musiker anfangen zu spielen, also das Arrangement, in schriftlicher Form vorliegt (also in Noten) oder anderswie, ist eine reine Frage der Zweckmäßigkeit und hat mit dem musikalischen Wert eines Musikstücks nichts zu tun. Es wird also auch vieles mündlich abgesprochen oder auswändig gespielt. So lernt man viele Themen samt den zugrundeliegenden Akkordfolgen auswendig, nicht nur für Jam Sessions, sondern auch für Konzerte, die von dafür eigens zusammengestellten Gruppen bestritten werden, die imstande sind (imstande sein müssen), auch ohne Probe und ohne Zuhilfenahme von Noten ein Programm in erstklassiger Qualität darzubieten. Hinzu kommen noch ein im Gedächtnis gespeicherter „Grundwortschatz” an Rhythmen und sehr gute Kenntnisse der Jazzharmonielehre. Ein erfahrener Berufsmusiker hat einige hundert Jazztitel sofort parat, oft mit Ein- und Ausleitungen, Zwischenteilen, speziellen Begleitrhythmen und anderem mehr. Das Spielen von Jazz bedeutet ein ständiges Gedächtnistraining, auch in höherem Alter, da immer wieder neue Stücke dazukommen. 4. Die Polarität zwischen Arrangement und Improvisation gleicht der zwischen den Gesetzen eines Staates, die das Zusammenleben und -arbeiten der Bürger garantieren, und der Freiheit des Einzelnen, die er braucht, um Mensch zu sein. Eine Musikgruppe mit Improvisation ist eine Art von Gesellschaftsmodell – ein Gedanke, der die Soziologen bisher offenbar noch kaum beschäftigt hat. 5. Durch die Improvisation wird in einer Jazzband die Fantasie viel mehr angeregt als in einer Musikgruppe, die ausschließlich Kompositionen spielt. Dies betrifft nicht nur die Gestaltung des musikalischen Materials eines Stücks, sondern auch den Umgang mit dem Instrument, also die Formung des Tons, der nicht so „normiert” ist wie in anderen Musikformen und die Beschaffenheit des Instruments. Ständig wird ausprobiert und modifiziert. Immer wieder tauchen auch Instrumente aus anderen Musikbereichen auf, die bisher nicht oder nur selten im Jazz verwendet wurden und Neuentwicklungen. |
|