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Mancher Streit bleibt unfruchtbar, weil man gar nicht so genau weiß (oder wissen will), worum es eigentlich geht. Das gilt auch für die Ästhetik. Die Diskurse sind aufwendig, aber meistens kann man sich nicht einmal auf das Minimum einigen: klare Standards und Kriterien. Das war früher (scheinbar) anders. Da war Kunst ein Handwerk und die Meisterschaft bestand in der Virtuosität und Präzision bei der Erfüllung vorgegebener Regeln. Wenn man so will, handelte es sich um eine Erfüllungsästhetik. Der Maßstab war vorgegeben und die Kritik, die man heutzutage vielleicht Beckmessertum nennen würde, bestand in der Geißelung der kleinsten Abweichung. Dann aber kamen die Genies und stellten die Welt der Kunst (und ihrer Kritik) auf den Kopf. Das Genie fügte sich nicht den Regeln, es schuf sie neu. Und Größe bestand gerade in der Differenz seiner Eigenart zu dem, was bisher galt. In der Welt der Kunst reüssierte nicht mehr, wer dem Gesetz die Treue hielt, sondern wer es verletzte – und sich genau dadurch als „Original“ inszenierte. Seit mehr als zweihundert Jahren leben wir in der Welt heroischer Genies, unter dem subversiven Diktat von Differenz und Dissidenz. So lautet zumindest eine Erzählung der Moderne, die längst zum Mythos geworden ist und Argumentationen im Feld des Schönen noch schwieriger und tückischer macht als anderswo. Denn das Genie wird zum Genie ja dadurch, dass es sich jedem Maß verweigert, das ihm äußerlich ist. Es tritt auf, wie der alttestamentarische Gott: Ich bin, der ich bin. Was zählt ist nicht das, was es mit anderen gemeinsam hat, sondern was es unterscheidet. Das ganz und gar Einzigartige aber entzieht sich nicht nur der Bewertung, die den Vergleich voraussetzt, sondern bereits der Bestimmung. Der Gott, aus dem man sich ein Bild macht, wird zum Götzen, das Genie, von dem man weiß, zur Handelsware: zum bloßen Schein dessen, was es einmal war. Gerade wenn man über Musik nachdenkt, hat es den Anschein, als sei jedes Urteil immer zu abstrakt oder zu konkret. Jede Behauptung wird fatal, wenn sie auf alle(s) oder nur auf einen zutrifft. Das Schöne ist weder ewig, noch das Extrem eines Augenblicks. Dies zugestanden, zerfällt auch der scheinbare Gegensatz von Genie- und Regelästhetik. Wenn man sie nicht als abstrakte Antithesen, sondern als Pole eines Prozesses begreift, kann man sinnvoll argumentieren und bewerten, während das Absolute und der Augenblick nur die Beschwörung, eine weitgehend sprachlose Faszination gestatten. In der permanenten Dialektik von Genie versus Regel entsteht das jeweils Neue – und auch eine „fruchtbare“ Rezeption, die immer wieder anders, „neu“ ist. Die These wäre also: Jeder Künstler erfüllt eine Regel, sonst wäre er keiner (sondern nur ein Dilettant oder ein frivoler Spieler); er muss sie aber (auch) verletzen, um sein unverwechselbares Werk zu schaffen. Neues, Differenz kann es nur in einer Welt geben, in der es auch Gesetze gibt. Verehrung der TotenNirgendwo wird das so deutlich wie im Jazz, wo es stets beides gibt: Verehrung den „Toten“ gegenüber, also ein Traditionsbewusstsein, das auf Außenstehende in seiner Treue sogar fetischistisch wirken kann. Und eine nicht minder heftige Verehrung für das „Jetzt“, den reinen Moment, in dem sich etwas ereignet, was sonst für immer verloren wäre. Das Mittlere zwischen Gesetz und Genie, Ewigkeit und Augenblick, das also, was lehrbar ist und nicht nur Gnade oder Kairos, wäre dann das, was man Genre nennt. Und die Vitalität des Jazz, die im letzten Jahrzehnt eher noch zugenommen hat, zeigt sich in der permanenten Variation und Erweiterung vorhandener Genres, im Spiel mit den Regeln hart an der Grenze (und über sie hinaus), das dazu führt, dass es ständig neue Sub- und Metagenres gibt. Jazz ist keine Sache für Puristen – obwohl selbst das „Puristische“ als Grenzfall, als ein Genre unter anderen seinen Platz hat. Jazz frisst – und wird gefressen. Er lässt es zu, dass man sich seiner Erfindungen bedient – und wildert selbst im Terrain der anderen. Das, was Adorno am Jazz noch so sehr störte: seine Nähe zu Funktionsmusiken, seine Bereitschaft, seine Autonomie preiszugeben und „Effekt“ zu werden, das ist nicht mehr Zeichen der Regression des Hörens, sondern Motor einer Ausdifferenzierung, die nichts unberührt lässt, und sich gerade dort bewährt, wo die Kritische Theorie der 30er Jahre diese (angeblich) der Kulturindustrie und dem Massenwahn verschriebene „Unterhaltungsmusik“ zuletzt vermutet hätte: nämlich im Formwillen, der die Außenseite der bedrohten, aber sich behauptenden Subjektivität ist, und im Materialbewusstsein, das im grenzüberschreitenden Jazz der Nach-Millenniums-Jahre heftiger am Werk ist als in fast jeder anderen „akuten“ Kunstform. Instanz der ErfahrungWas bemerkenswert bleibt: Gerade dort, wo der Jazz sich scheinbar in die Welt der Computer-„Nerds“ verliert, Teil der Clicks&Cuts-Ästhetik wird oder Beihilfe leistet bei der Erfindung und Erkundung virtueller Welten, erweist er sich als das, was er schon in New Orleans vor hundert Jahren war: als Instanz der Erfahrung. Jazz bleibt nur „er selbst“ (und das bietet vielleicht auch eine Orientierung im unübersichtlichen Kosmos der Sub- und Metagenres, der Schimären und Mutanten), wenn er sich nicht der „Maschinerie“, dem Betrieb ausliefert. Im „guten“ Jazz sind Körper und Seele immer auch Orte der Erinnerung. Sie sind, was Adorno trösten und beruhigen müsste, nie glatt und selbstvergessen, sondern voller Wunden und Spuren, Archive dessen, was schon war und was dem, was noch kommen wird, eine Grenze setzt. Dann macht es auch nichts mehr, wenn man zu ihm tanzen und marschieren kann. Er ist auf jeden Fall mehr als nur die Begleitmusik für Prozesse, in denen das Subjekt in der puren Lust oder in der ungehemmten Grausamkeit untergeht, hedonistisch oder martialisch zerschlissen wird. Helmut Hein |
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