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Bis zum Nordpol ist es weit, und auch bis in den Orbit. Und dass der Weg mit dem ungeliebten und schweren Schulranzen auf dem Rücken weit sein kann, weiß jedes Kind. Immerhin: Die Berliner Band LAX brauchte 1996 weit mehr Zeit als sonst, um „Nordpolstories“, „Orbit fünf“ und „Schulranzenblues“ jazzmusikalisch zu beschreiben: nämlich deutlich über zwei Minuten. Damals noch ein Trio mit Uli Jenneßen (Drums), Gerold Genßler (Bass) und Henrik Walsdorff (Saxophon), formte LAX kurze, konzentrierte, thematisch gestaltete Stücke auf dem Grenzgebiet zwischen freier Improvisation und vorgegebenen musikalischen Gedanken.
Die im September 1996 aufgenommene Mini-CD zeugt von der Faszination,
die von dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen freier Improvisation
und konzentriertem Gestalten prägnanter Formen ausgehen kann. Es
entstanden dreizehn Etüden, deren Zeitdauern sich jeweils zwischen
55 und 155 Sekunden bewegen, zum Thema „Was kann alles in kürzester
Zeit freejazzig gültig gesagt werden?“ Knapp zehn Jahre später
sollten diese Erfahrungen, freie Improvisation mit einer hoch komprimierten
Form zu verbinden, aufgegriffen und produktiv nutzbar gemacht werden.
LAX entstand 1994 in Berlin aus einem Trio, bei dem Jenneßen und
Walsdorff auf den Ostberliner Bassisten Genßler traf, der sich einen
Namen zunächst als Blues-Bassist bei Stefan Diestelmann gemacht hatte.
Kurze Zeit später wurde das Trio durch John Schröder zur Vierer-Besetzung
komplettiert, die sich – zunächst in der Berliner Szene, bald
weit darüber hinaus – mit ihrer besonderen Spielhaltung profilierte.
Hoch-energetische, präzise Improvisationen von großer Klangdichte
und Expressivität, unterschiedliche Solo-Formen und kollektiver „reflektierter
Expressionismus“ (wie Uli Jeneßen etwas später die LAX-Musik
umschreibt) schaffen eine Musik, die sich – über teils frei
aufgefassten Strukturen – auf eine intensive, zuweilen trance-artige
musikalische Kommunikation zubewegt. Und das Material dieser CD nimmt Bezug auf die Kurzstücke von 1996: Mit „Exact 3000“, „Setzen Sechs“, „MMX-24“ und „Ingeborg“ greifen die LAX-Musikanten auch vier der dreizehn Kompositionen der Mini-CD auf und entwickeln sie zu ausgearbeiteten, bebop-beeinflussten Freejazz-Stücken. Gerade im Vergleich mit den Versionen auf der Mini-CD erweist sich, welch rhythmisch-dynamische Kraft vom Gitarre-Spiel John Schröders ausgeht. So gewinnt „Exact 3000“ durch die akkordischen und single-note-Einwürfe Schröders deutlich an Präzision und Spannung. Auch bei „Setzen Sechs“ puscht er Henrik Walsdorff und dessen extatisches Solo voran. Zudem brilliert der Saxophonist mit einem noch bizarreren Spiel: es scheint, dass Walsdorff in Sound und Phrasierung, mit einem bissigen Ton und Wahnsinns-Melodieeskapaden Charlie Parker in die Gegenwart katapultiert. Insgesamt erreichte LAX mit „Time – in 60 Seconds“ ein atemberaubend hohes Niveau heutigen Jazzmusizierens. Mathias Bäumel
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