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Jazzzeitung

2002/09  ::: seite 13

portrait

 

Inhalt 2002/09

standards
Editorial
News
break
no chaser: Nur für Promotionszwecke
5 Fragen an:
Marianne Benz, Jazzclub Bamberg
musiker-abc:
Ella Fitzgerald
all that jazz:
Die Krise als Chance
Farewell.
Zum Tode des Bassisten Ray Brown

titel
Keyboardmagier des E-Jazz.
Nachlese Münchner Klaviersommer 2002
Titelbild. Joe Zawinul

berichte
Etting: Debbie Deane auf Tournee
Memmingen:
Aziza Mustafa Zadeh in der Memminger Meile
Murnau:
Der Violinist Hannes Beckmann

jazz heute
  Junge Talente fördern.
Branford Marsalis gründet eigenes Label
  Ein Club im Grenzbereich.
Im Jahr 2002 steht der Jazzkeller in Berlin Treptow vor seiner größten Bewährungsprobe
  break.
  DJF. Am Anfang war die Idee.
Oder „Über den Streit, wer die Idee hatte, die DJF zu gründen“

portrait / interview
Frech siegt.
One Sandra Weckert Fan might be wrong
Dynamik und Drive.
Der Schlagzeuger Elvin Jones wird 75
Vielfältigkeit und Vielseitigkeit.
WDR-Big-Band-Leiter Bill Dobbins geht zurück in die USA
Einhundert Gedichte.
Thärichens Tentett traumwandelt in der Großstadt
Ballett, Lafontaine und ein Weiher im Banat.
Der Münchener Saxophonist, Komponist und Arrangeur Hugo Siegmeth

play back / medien
Zurück zu den Wurzeln.
Harry Belafontes 5-CD-Box „The Long Road to Freedom“
Tausendstel Zoll für die Ewigkeit.
Ashley Kahns Besichtigung des Schallplatten-Mythos „Kind of Blue“
Internet. Link-Tipps

education
Fortbildung. Fortbildung
Abgehört 8
Michael Brecker: Balladen pur
Würzburg. Jazz-Abteilung des Konservatoriums gehört jetzt zur MHS Würzburg

dossierfestivalsommer
Dortmund. europhonics 2002
Halle. Der Burghof als Dancefloor
München. Das Münchner Opernfestival und der Jazz
Nürnberg. „Jazz. Ost West 2002“ mit neuem Konzept
Regensburg. Jungjazzer beim Jazzweekend 2002
Tegernsee. Zweites „traditional and modern jazz-festival“
Unterföhring. 1. „Summertime Jazz Meeting“

service
Critics Choice
Rezensionen 2002/09
Service-Pack 2002/09 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (172 kb))

 

Frech siegt

One Sandra Weckert Fan might be wrong

Die Geschichte von Musch Silbernagl im tyrolischen Kastlruth mutet etwa genauso kurios an wie die der Sandra Weckert, klar, dass solche zusammenkommen müssen: Silbernagl, einziger Sohn des Kaufhausunternehmers Silbernagl zu Kastlruth, sucht rechtzeitig das Weite, um die Juristerey und die große Weltläufigkeit zu studieren. Bald rufen die vier Schwestern aus der Heimat um Hilfe, Musch, komm zurück, das war 1996.

Seitdem fristet Musch Silbernagl sein traurig-süßes Dasein im tyrolischen Kastlruth, wohin er illustre Kapellen vom Schlage einer Sandra Weckert ab und zu einlädt, um dort, im Wald, Sause zu machen (Sandra Weckert: „50 Sandra Weckert Fans can’t be wrong“ Jazzfiles rec. ohne Nr., 2002, Track 2). Das erzählt Sandra Weckert, sitzend bei Bier und Käs im Augustinerbiergarten zu München an einem sonnig heißen Frühsommertag: München ist schon urig, sagt Weckert, die eigens für den Interviewzirkus in den wilden Süden gefahren ist, kommend aus Meck-Pom, via Berlin, wo sie lebt.

Lässt sich nicht unterkriegen: Mingus-Fan Sandra Weckert. Foto: Detlev Schilke

Sandra Weckert ist ein wenig nervös, nein nicht hippelig, obschon sie sehr schnell redet, mit der Aufgeregtheit einer gerade auf Schulfahrt befindlichen 14-Jährigen – Sandra Weckert ist gerade 29 geworden, hat eine 2-jährige Tochter Naima Fulana und ist verheiratet mit Al Weckert:

„Der hat mich ja überhaupt drauf gebracht. Wir haben uns in Berlin kennen gelernt, ich kam grad aus Rostock, wo ich aus der Kabarettgruppe Rohrstock rausgeflogen war, was mich fast umgebracht hätte, da traf ich Albert. Ich war hin und weg von seiner Plattensammlung, Mann 2.500 geilste Scheiben, der hat mir nicht nur gezeigt, was Jazz ist, der hat mir auch gezeigt, was Funk, was Soul, was Blues ist, eine unglaubliche Bandbreite an guten Leuten, alle die Sachen haben dazu geführt, was jetzt da ist“.

„50 Sandra Weckert Fans can’t be wrong“, Sandra Weckerts zweite CD, das ist weit mehr als das Zitat eines Elvis Presley Slogans („50 Million Elvis Fans can’t be wrong“), auch mehr als der intellektuell verdrehte Song von Paul Simon „50 ways to leave your lover“) – es ist das trotzige Statement, das dem Jazz als Lebensform sui generis eignet: das Trotzdem. Viermal versucht Sandra Weckert, an einer ordentlichen Hochschule zu studieren, viermal wird sie abgewiesen: Dreimal versucht sie es an der Hochschule für Musik Hanns Eisler, einmal an der HDK in Berlin.

Weckert wächst auf im Schutz protestantischer Jugendarbeit, singt, spielt Gitarre:
„Wenn du gemeinsam singst, begreifst du dich ganz unmittelbar als Teil eines größeren Ganzen, du bist nicht mehr nur Individuum, du bist mitten in einem großen, organischen Klangkörper, das ist stark. Viele Jazzmusiker haben das heute vergessen, die stehen da auf der Bühne wie Kartoffelsäcke, können überhaupt keinen Kontakt zu ihrem Publikum herstellen und wollen anschließend ihre CDs verkaufen, die genauso daherkommen, wie sie selbst und ihre Musik auf der Bühne, das kann nicht gut gehen. Du musst auch nach den anderen schauen, dich als Teil einer Gemeinschaft begreifen, sonst geht es nicht.“

Die Eltern haben die Geige ausgeguckt für Tochter Sandra, die eigentlich Flöte spielen will. Wie auf dem Pferdemarkt reißt ihr die Musikschullehrerin das Maul auf, prüft die Zähne und sagt: „Nö, dieses Gör kann niemals die Flöte spielen, die soll mal schön Geige lernen.“

Sie tut, wie ihr geheißen, verbucht passable Erfolge bei den Preisspielen auf Landesebene : „‚Jugend musiziert‘ in und um Meck-Pom“. Thomas Wiediger, der Holzblaslehrer, wittert das Talent der Sandra Weckert und unterrichtet sie in den Basics mit der Bedingung, regelmäßig zu üben.

Zur Geige gezwungen, die Flöte vergessen, das Saxophon erträumt. In Kassel, wo sie nach der Wende Aushilfsjobs macht – sie ist 17 –, sieht sie in einem Schaufenster dieses gülden schimmernde Ding, das sie auf der Stelle haben muss. Sie beginnt, dem Instrument jämmerliche Töne abzuringen, die Unterweisungen Wiedigers scheinen dahin, vergeblich.

Inzwischen in Berlin vertraut sie sich Rolf von Nordenskjöld an, der sie wohlwollend fördert. Allerdings soll Sandra Weckert nicht studieren dürfen: sie habe überhaupt kein Talent, sei wohl einfach zu doof, sich einfachste Harmoniestrukturen zu merken, könne überhaupt nicht mit vorgegebenem Material improvisieren, sei am Ende keine Jatz-Musikantin.

Ist sie, eben deswegen gerade doch, denn das schiere Trotzdem, die Notwendigkeit, aus scheinbar auswegloser Lage (sic!) eine Kurve zu kriegen, das ist das sine qua non des Jazz. Es war wohl der fast gewalttätige Trotz des Charles Mingus, der die Weckert restlos entflammte: Albert, den sie gerade kennen gelernt hatte, kokettierte mit soeben erworbenen 40 Mingusplatten – „boaah, 40 Mingusplatten, booaaahh geil, wann kann ich mir die mal anhören...?“

Interessant an Sandra Weckert sind nicht ihre vorliegenden zwei CDs, die frech, trotzig und avanciert daherkommen mit einer Musik, die in ihrem Engagement nichts anderes als modern, also zeitgemäß, zeitgenössisch genannt werden muss. Interessant an Sandra Weckert ist ihre Unbekümmertheit, ihre Spielfreude, ihr Augenzwinkern, ja: ihr Humor.
Mit kabarettistischem Spielwitz persifliert sie auf das dudelnde Einerlei der Barjazzsender landauf, landab – „Till Brönner sagt in seinen Interviews, er wolle eine Musik spielen, die niemanden stört, ja verdammt nochmal, ich will eine Musik spielen, die stört, Sand ist im Getriebe der Welt. Ich möchte, dass sich Leute mit meiner Musik auseinander setzen müssen.“
Damit hat sie natürlich keine Chance auf einen profilierten Sendeplatz, bleibt im Zirkel der 50 Sandra-Weckert-Fans, die – das muss man respektvoll anerkennen – nicht irren: die Musik ist in ihrer Konsequenz und Radikalität einfach gut, jenseits der Genres.

Müßig, zu beschreiben, wie sie klingt: eine Mischung aus Braxton und Konitz - was sagt das aus? Müßig auch, Prognosen zu stellen: „Die wird mal eine gaaanz Große… tritt in die Fußstapfen Ornette Colemans…“ Denn drumherum gibt es gottseidank zahlreiche Kolleginnen, deren Musik ebenfalls lohnt, gehört zu werden: Silke Eberhardt, Angelika Niescier, Co Streiff und viele andere: sie alle spielen Altsaxophon, warum wohl? Eine andere Frage, gewiss.

Sandra Weckert arbeitet derweil an der nächsten Platte und schenkt mir zum Abschied diese berückend plastene Schürze, die so schrecklich – schräg – scheußlich kommt und grad recht passt zum Schweinebraten mit Knödeln, zum Obatzden und zu einer Mass Bier: „Da essn ma hoit an Kaas.“

Roland HH Biswurm

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