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Jazzzeitung
2002/09 ::: seite 4
portrait
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Bill Dobbins war von September 1994 bis Juli 2002 Chefdirigent der renommierten
WDR Big Band in Köln, die er von Jerry Van Rooyen übernommen
hatte, der wiederum im Laufe seiner zehnjährigen Leitung aus dem
WDR-Tanzorchester unter Werner Müller eine Jazz Big Band geformt
hatte. Dobbins war seit April 1998 auch Leiter der Jazz-Abteilung der
Kölner Hochschule für Musik. Dobbins’ Lehrwerke und -videos
ebenso wie Veröffentlichungen über die Kunst der Klavierimprovisation,
über Komposition und Arrangement sowie Transkriptionen klassischer
Jazz-Soli gehören zu den Standardwerken der Jazz-Pädagogik.
Ende Juli ist Bill Dobbins an seine frühere Wirkungsstätte in
Rochester, N.Y., zurückgekehrt.
Jazzzeitung: Die Amerikaner verlassen Köln, genauer: die
amerikanischen Orchester-Chefs. James Conlon, Chefdirigent des Gürzenich-Orchesters,
kehrt nach dreizehn Jahren wieder in die Staaten zurück, Bill Dobbins,
Leiter der WDR Big Band, nach acht Jahren. James Conlon sagte beim Abschiedskonzert
in der Kölner Philharmonie: „Wo auch immer ich bin, Köln
werde ich nie vergessen.“ Was sagt Bill Dobbins dazu?
Bill Dobbins: Ich würde das Gleiche sagen, aber glücklicherweise
darf ich jedes Jahr zwei- oder dreimal zurück nach Köln kommen
und weitere Projekte mit der WDR Big Band leiten. Das war sehr wichtig
für mich, als ich diese Entscheidung getroffen habe. Sie hat auch
ein bisschen mit Familie zu tun: Bevor ich mit meiner Frau nach Köln
kam, wohnten wir 21 Jahre in Rochester, wo ich an der Eastman School of
Music gelehrt und 6 Jahre die Jazz-Abteilung geleitet habe. Im vorigen
Jahr ist auch unser Sohn nach fünf Jahren New York City mit seiner
Frau nach Rochester, wo er aufgewachsen ist, zurückgekehrt. Im April
erfuhren wir dann, dass wir im Oktober erstmals Großeltern werden,
und als wir uns gerade Gedanken darüber machten, dass wir unseren
Enkel wohl nur sehr selten sehen werden, hat mich ganz überraschend
der Chef der Eastman School angerufen und gesagt: „Wir möchten
unbedingt, dass Sie zurückkommen, was brauchen Sie?“ Sie haben
dort im letzten Jahr mit einem Doctors Degree Programm in Jazz angefangen,
jetzt haben sie alle drei Degrees für Jazz: Bachelors, Masters and
Doctors. Das war für uns eine unverhoffte Verbindung zwischen Beruf
und Familie, das konnten wir nicht absagen. Aber ich habe gerade mit dem
neuen Manager der WDR Big Band, Lukas Schmidt gesprochen: Von beiden Seiten
wird gewünscht, dass ich auch in Zukunft noch ein Teil der Big Band
bleiben darf. Und das hat uns sehr gefreut.
Jazzzeitung: Können Sie über diese zukünftige
Zusammenarbeit mit der WDR Big Band schon etwas Konkretes sagen? Ich habe
gehört, dass Sie auch in Berlin beim Jazz Festival mit der WDR Big
Band auftreten.
Dobbins: Genau, wir machen ein Konzert Ende September zusammen
mit Peter Erskine auf Einladung von Simon Rattle, dem neuen Dirigenten
der Berliner Philharmoniker. Er steht in Verbindung mit Peter Erskine,
sie haben einige gemeinsame Projekte gemacht, und Simon Rattle hat sich
wohl gedacht, es wäre eine gute Idee, Peter in seinem eigenen Element,
dem Jazz, in Berlin zu präsentieren, und da lag es nahe, ihn mit
der WDR Big Band als Schlagzeuger und Jazz-Komponist auftreten zu lassen.
Jazzzeitung: Bob Brookmeyer, mit dem die Band oftmals zusammengearbeitet
hat, sagte einmal: „Much of what the WDR Big Band in Cologne produces
you couldn’t hear anywhere else in the world.” Dieses Zitat
ist nur eines von vielen Komplimenten aus dem Munde prominenter Gäste.
Was ist das Besondere an der WDR Big Band? Was meint Bob Brookmeyer genau
und was unterscheidet die Band von anderen deutschen oder europäischen
oder gar amerikanischen Big Bands?
Dobbins: Ich glaube, was die WDR Big Band von anderen Big Bands
weltweit unterscheidet, ist ihre Vielfältigkeit und Vielseitigkeit,
die Tatsache, dass sie ein sehr breites Spektrum des Jazz präsentiert,
von Repertoire-Konzerten bis zu Uraufführungen von Werken wichtiger
Jazz-Komponisten überall in der Welt, aber auch von Konzerten mit
führenden Gastsolisten, die ansonsten ihre eigenen, kleineren Bands
leiten und ihre Stücke in besonderen Arrangements sehr gern gerade
mit der WDR Big Band aufführen. Ich glaube, es wäre schwierig,
irgendwo in der Welt eine solche Vielfalt und besondere Art der Präsentation
durch eine Big Band zu finden. Die Mitglieder der Band interessieren sich
selbst sehr stark für dieses breite Spektrum im Jazz. Die Band hat
auch den Vorteil, dass sie nur relativ wenig kommerzielle Musik spielen
und aufnehmen muss, ab und zu für WDR 4 und ähnliches, aber
niemals soviel wie die anderen Radio Big Bands, die sonst noch in Europa
existieren. Das ist natürlich auch ein Grund, dass wir viel mehr
solche Musik spielen können, wie sie Bob Brookmeyer meint und wie
man sie sonst nirgendwo in der Welt hören kann. Das ist eine ganz
tolle Sache für uns alle.
Jazzzeitung: Wie stellt sich eigentlich die Big-Band-Szene in
den Vereinigten Staaten dar? Wie man hört, gibt es kaum noch ständige
Big Bands, höchstens Pick-up-Bands, die mal für eine Tournee
oder eine Konzertreihe zusammengestellt werden. Gerade waren Sie mit der
WDR Big Band in Los Angeles und Las Vegas. Da konnten Sie die Unterschiede
sicher deutlich feststellen. Ist die Situation hier besser?
Dobbins: Zumindest für die WDR Big Band ist sie sehr viel
besser. Außer ihr und der Lincoln Center Big Band, die von Wynton
Marsalis geleitet wird, kenne ich überhaupt keine Big Band in der
Welt, die an die 35 bis 40 Wochen im Jahr zusammen spielt. Das ist wirklich
ein sehr großer Vorteil. Obwohl viele andere Big Bands auf sehr
hohem Niveau spielen, man merkt einfach, dass sie nur ab und zu mit dem
gleichen Personal spielen können. Die meisten Mitglieder solcher
Bands haben viel Freizeit, in der sie sich um sich selbst kümmern
und Free-Lance-Projekte machen müssen. Für uns ist es eben ein
sehr großer Vorteil, dass diese Band ständig, praktisch Tag
für Tag, zusammen spielt, und das merkt man am gesamten Ergebnis,
das die Band erreichen kann.
Jazzzeitung: Ist es nicht überhaupt so, dass Jazz in Amerika,
im Heimatland des Jazz, gar nicht mehr diesen Stellenwert hat, wie in
Deutschland und überhaupt in Europa?
Dobbins: Ja, das hat zu tun mit der Tatsache, dass es für
jede Art von Kunstmusik, ob Jazz oder klassische Musik, heute in Amerika
immer mehr Probleme gibt, denn es gibt immer weniger staatliche Unterstützung,
und merkwürdigerweise gibt man von dieser Unterstützung 95 Prozent
für klassische Musik aus. Da bleibt wenig übrig für den
Jazz. Ob man nun die Musik von Wynton Marsalis mag oder nicht –
ich persönlich finde seine Musik manchmal sehr interessant –,
aber er hat in den letzten fünfzehn Jahren doch einiges dafür
geleistet, dass der Jazz als ein wesentlicher Teil der amerikanischen
Kultur angesehen wird und – was vielleicht noch wichtiger ist –
auch dafür, dass der große Einfluss des Jazz auf die verschiedenen
Kulturen in der Welt anerkannt wird.
Interview: Dietrich Schlegel
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