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„Crisis? What Crisis?“ fragte einst ironisch „Supertramp“. Die Krise war immer die Krise der anderen. Die Soft-Rock-Superstars zogen sogar noch aus dem sozialen Verfall ihren Profit: Harte Zeiten brauchten sanfte Klänge. Jazz dagegen war, von Anfang an, in ganz anderer Weise ein Kind der Krise: die Sprache derer, die stumm gemacht werden sollten; die Stimme aller, denen in den offiziellen Institutionen Ausdruck und Repräsentanz verweigert wurden. Krise war im Jazz aber immer beides: Zeichen einer drohenden Katastrophe, ja des „sozialen Todes“ – und Chance, der Soundtrack einer neuen sozialen Mobilität. Jazz ist das Gegenteil von Statik. Als wären seine Maestri bei Machiavelli in die Schule gegangen, wussten sie: Wir müssen ständig neues Terrain erobern, sonst geht auch das alte, der scheinbar unbezweifelbare Besitz verloren. Jazz ist als nicht notierte, als weitgehend improvisierte Musik nicht nur ein Phänomen des heftigen Augenblicks, sondern auch des raschen Übergangs. Seine Intensität verdankt sich der Tatsache, dass alles, was entsteht, sofort wieder vergeht, dass es reines „Jetzt“ ist. Aber Jazz war zumindest in seinen besseren Momenten nie geschichtslos. Sein Ort war nicht die Nische, in der man es sich bequem macht, sondern die Passage: dort kommt alles vorbei, dort zieht es heftig, dort gibt es auch ein großes Durcheinander. „All that jazz“, dieser programmatische Slogan fast von Anfang an, bezeichnet nicht nur den andauernden Skandal der Rassen- und Klassenverhältnisse oder die Unordnung in den Liebes- und Arbeitsverhältnissen, sondern auch ein produktives Chaos. Fast alles konnte Jazz sein oder werden. Jazz ist die große Maschine, die alles in sich hineinreißt und verwandelt. So war Jazz, rein musikalisch gesehen, von Anfang an weniger ein eigenes Genre oder ein besonderer Stil, sondern das Medium, in dem alles, was es gibt, in einen anderen Zustand versetzt wird. So wurde Jazz, der in seiner „reinen“ Form, von wenigen Ausnahmen
abgesehen, in jeder Bedeutung dieses Worts Minderheitenmusik blieb, die
anregendste, einflussreichste und präsenteste Musik des 20. Jahrhunderts:
ein Archiv der Volksmusik, die Basis von Blues, Pop und Rock, eine permanente
Blutzufuhr für die von Erstarrung bedrohte E-Musik-Avantgarde, oft
auch das probateste Mittel, aus eigensinnig regionalen Musiken das entstehen
zu lassen, was man heute „Weltmusik“ nennt. Diese Kolumne geht von zweierlei aus: dass Jazz vital wie eh und je ist; und dass sich diese Lebendigkeit vor allem dort zeigt, wo er scheinbar zur Chimäre wird: in seiner Fähigkeit, sich allem, was nicht er selbst ist, auszusetzen, es anzueignen, zu durchdringen, zu verwandeln. Das ist etwas anderes als „Fusion“. „Fusion“
war, vor allem in den 70er-Jahren, der Versuch, die Vermarktbarkeit und
Verkäuflichkeit von Musik zu steigern, indem man nach dem kleinsten
gemeinsamen Nenner von Jazz und Rock oder Jazz und Klassik suchte. „Fusion“
in diesem Sinn war das Ende von Unruhe, Aufregung, Experiment. Ein möglichst
wenig verstörender Markenartikel, der tatsächlich das war, was
Theodor W. Adorno unverständig und unwillig dem Jazz insgesamt attestierte:
er sei eine Regression des Hörens, banale Musik für banale Menschen,
deren Existenz nach den Vorgaben der Steigerung des Profits und der Verminderung
der Organisationskosten verwaltet werde. Nicht „Fusion“ soll also das Thema dieser Kolumne sein. Es geht nicht um die Verminderung von Unruhe und Irritation, von Komplexität und Widerspruch, sondern um deren Steigerung. Die Heimat des Jazz ist nicht ein „juste milieu“ der Fans und Gleichgesinnten, die sich der Traditionspflege widmen, sondern die zugige Passage, der Übergang, all die unruhigen und noch nicht zu Ende definierten Bereiche, wo aus dem Heterogenen experimentierend, „versuchend“, natürlich auch scheiternd Neues entsteht. In dieser Kolumne soll verfolgt werden, was aus dem Jazz wird, wenn er sich auf „blind dates“ mit Pop oder Techno, mit E-Musik-Avantgarde oder Weltmusik, aber auch mit der neueren Literatur, mit dem multimedialen Hörstück, mit Theater und Film einlässt. Und genauso werden Entwicklungen in Pop und Techno, E-Musik und Weltmusik, Literatur, Hörstück, Theater und Film zum Thema werden, die „jazzy“ sind, also Jazz als Genre „in Bewegung“ weiterbringen könnten. Solange der Jazz lebendig ist, ist er „unterwegs“: so wie in den 50er-Jahren die beat-poets von Ginsberg bis Kerouac im Bebop Charlie Parkers den befeuerten Puls ihrer eigenen unruhigen Existenz „on the road“ entdeckten. Helmut Hein |
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