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Eigentlich ein Musikbuch wie viele andere. Mit allgemeinen Informationen zum Werdegang eines Komponisten, den genauen Umständen der Entstehungsgeschichte eines Meisterwerks, dessen genauer Beschreibung und Einordnung in den historischen Kontext, nebst Ausblicken auf seine Erfolgs- und Wirkungsgeschichte. Und mit einem kleinen Unterschied: Das Meisterwerk ist keine Sinfonie, Sonate oder Oper, es hat nicht einmal einen echten Komponisten. Es ist „nur“ eine Jazzplatte. Wenn auch eine sehr, sehr gute – für viele eine der Besten: „Kind of Blue“ von Miles Davis. Ein Musikbuch wie viele andere also? Kaum, denn die Mittel, mit denen das erwähnte Buchgerüst im Fall einer klassischen Komposition aufzufüllen wäre, versagen vor einer Gattung, deren Platz in der Musikgeschichte noch gar nicht bestimmt ist. Was ist eine Jazzplatte? Eine Sammlung von Interpretationen bestimmter Stücke, von Kompositionen also, deren Schöpfer man nach dem Schema Leben und Werk in Universitätsbibliotheken ablegen kann? Eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger guten Improvisationen? Eine kollektive Komposition, die der Kreativität einer bestimmten Gruppe von Musikern zu einem bestimmten Augenblick entsprungen ist? Oder das Werk eines Bandleaders, der weiß, wen er wann was spielen lassen muss, um ein außergewöhnliches Ergebnis zu erhalten? Ashley Kahn hat sich in seiner Besichtigung des längst zum Mythos gereiften Albums von 1959 für einen Blickwinkel entschieden, der zum letztgenannten Definitionsversuch neigt. Wie wenige andere verstand sich Davis – nicht zum Monologisieren neigend – als Kopf, Anreger und Lenker einer Gruppe von Musikern, deren Potenzial er oft, wenn nicht als Erster erkannte, so doch im Kontext seines Bandkonzepts erst zur vollen Entfaltung brachte. Die Besetzungen der Jahre 1955 bis 61, unter anderem mit den bei „Kind of Blue“ beteiligten Saxophonisten John Coltrane und „Cannonball“ Adderley sind ein faszinierendes Beispiel dafür. Folgerichtig macht Kahn es sich in den ersten beiden Kapiteln zur Aufgabe nachzuvollziehen, wie der Trompeter dieses Gespür für die richtige Zusammensetzung einer Band entwickelte und wie er sich die Autorität verschaffte, eine solche Aufnahme in die gewünschten Bahnen zu lenken. Auch für die übrigen Musiker skizziert Kahn die Voraussetzungen, die sie ihren Platz in der Konstellation vom 2. März und 22. April 1959 einnehmen ließen. Stilistische Spurensuchen – nach den Ursprüngen des für „Kind of Blue“ essenziellen „modalen“ Prinzips – erhöhen die von Kahn sehr planvoll aufgebaute Spannung hin auf die Kapitel drei und vier, das Herzstück des Buches. Die Rekonstruktion der beiden Sessions im Columbia Studio in New Yorks 30ster Straße basiert auf dem Bandmaterial, das Kahn mit fanatischer Liebe zum Detail auswertete, wobei er auch technischen Details eine fast schon poetische Qualität abgewinnt: „Das Scotch-Tonband war ein verhältnismäßig neues Fabrikat aus festem, belastbarem Azetat und nur ein tausendstel Zoll dick. Das ergab 45 Minuten ununterbrochene Aufnahmezeit, während das Band mit einer Geschwindigkeit von 15 Zoll pro Sekunde über die Tonköpfe lief. Für die erste Aufnahmesitzung wurde nicht mehr als eine Spule gebraucht.“ Dies scheint die Legende zu bestätigen, der zufolge das Quintett die von Miles Davis frisch mitgebrachten Stücke vom Blatt weg und auf Anhieb für die Ewigkeit einspielte. Bill Evans‘ Linernotes (deren Handschrift ist auf dem Vorsatz des wunderschön präsentierten und reich bebilderten Buches faksimiliert) hatten diese Legende genährt, bis ein zusätzlicher kompletter Take der „Flamenco Sketches“ veröffentlicht wurde. Dank Ashley Kahn wissen wir nun von einigen Anläufen, die zum Beispiel der junge Bassist Paul Chambers brauchte, um die zweite, endgültige Version eben dieses Stückes zustande zu bringen. Oder von einer Neuaufnahme des Schlusschorus von „Freddie Freeloader“, die dann aber nicht benutzt wurde. Das Gefühl, dieser Sternstunde improvisierter Musik unmittelbar beizuwohnen – das ist zweifellos Kahns Ziel und er erreicht es durch präzise Beobachtung ebenso wie durch suggestive Beschreibungen der Soli. Musikalische Erkenntnisse vermittelt er dabei eher selten, ein Rückbeziehen von Detailbeobachtungen auf das klingende Ganze vermisst man mitunter. Dennoch ist es eine reiche Ernte, die Kahn mit seiner Studie einfährt, einer Liebeserklärung an dieses Album und den Jazz allgemein. Nicht zuletzt auch dank der aufschlussreichen Kapitel zur Vermarktung und Nachwirkung des Albums. Ein Musikbuch wie kaum ein anderes. Juan Martin Koch |
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