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Der Jazz-Kosmos wuchert, die Genealogien werden komplizierter, weniger denn je scheint klar, was „all that jazz“, musikalisch und sozial, bedeutet. Wer gehört dazu, wer nicht, das ist eine Frage, die sich zunehmend häufiger stellt. Früher waren die Verhältnisse verwirrend, aber nicht unbedingt unübersichtlich. Es war die Regel, dass die Blues- und Jazz-Musiker dort, wo sie spielten, nicht essen oder tanzen durften. Und es war alles andere als eine Ausnahme, dass die großen schwarzen Musiker andere reich machten, während sie selbst froh sein durften, wenn sie die Wände ihrer Plattenfirma streichen durften, um sich ein paar Dollar dazu zu verdienen. Die „Rolling Stones“ etwa fanden ihr großes Idol Muddy Waters Mitte der 60er-Jahre unverhofft auf einer Leiter, mit dem Pinsel in der Hand, vor und waren schockiert. Im Europa dieser Tage war der Rassismus schon verschämter. War die große Nina Simone eine Jazz-Sängerin? Sie selbst wollte es partout nicht sein, bestand, wenn es schon nicht anders ging, auf „Jazz-and-something-else“. Jazz-music war race-music. Für die Weißen, selbst für ansonsten kluge Menschen wie Theodor W. Adorno, Schund, für die eigene Familie meist Sünde. Nina Simone musste ihre Identität als Jazz-Sängerin vor ihrer eigenen Mutter verbergen. Ihr spätes Geständnis führte zum Bruch, der sich nicht mehr kitten ließ. Dabei hatte Nina Simone doch erklärt, warum sie in Bars sang: um sich ihre klassische Ausbildung zu finanzieren. Dieses dunkle, finstere Herz kam nur bei der weißesten aller Musiken zu sich und zur Ruhe: bei Beethoven und Liszt. Beethoven- und Liszt-Spielen wurde zeitlebens die probate Kur, um sich die Song-Zeile und die Jazz-Melodien aus dem Kopf zu schlagen, die sich in ihr festsetzen wollten. Gehörte Nina Simone dazu? Wozu? Sie war ja von den Gospels geprägt, mit denen auch ihre Mutter einverstanden gewesen wäre, weil sie nicht sündig waren, sondern das schöne Kleid für Gottes Wort. Und sie wollte sein wie Beethoven. Später, im Greenwich Village des Sixties-Aufbruchs, gab sie als Berufsbezeichnung an: Folksinger. Und sie kehrte das vertraute Muster um, begann vertrackte weiße Selbstverständigungsmusik von Bob Dylan und Randy Newman nachzusingen. „Just like a woman“, das ist bei Nina Simone keine brüchige Chauvi-Hymne mehr, sondern die Stimme der anderen Seite des Himmels. Wer gehört dazu, wer nicht? Könnte man sagen, dass David Thomas, dieses – allein schon in seiner Physis – wuchernde pataphysische Ungeheuer, das mit „Père Ubu“ den Punk revolutionierte und später als irrlichternder Songwriter in wechselnden Besetzungen eine immer merkwürdigere Kunstmusik erfand, in der selbst die ganz und gar natürlich erzeugten Klänge vollkommen künstlich klangen, mit seinem meist wimmernden, aber immer düsteren Ausdrucksverlangen sich „all that jazz“ eroberte, als Mitte einer zerissenen Welt, mit den kürzesten Wegen zu allen Genres? Und was wäre dann, zum Beispiel, mit David Garland, der gern mit
John Zorn, diesem ewigen No-Wave-Jazzer musiziert und sich ansonsten sein
ästhetisches Verfahren von dem Ethnologen und Mythenforscher Claude
Lévi-Strauss borgt. Von „bricollage“ sprach der, wenn
Fragmente aus einem vertrauten Zusammenhang herausgelöst wurden und
mit anderen nomadisierenden Formen und Materialien ganz neue Verbindungen
eingingen. Ist das ein kühles Verfahren, oder wird an den Bruchstellen
gerade das heiße, gejagte Herz der Dinge spürbar? Garland,
der Avantgardie, kennt keine Tabus. Er nimmt sich, im Doppelsinn, alles
heraus. Sein Jazz, wenn es Jazz ist, ähnelt einer Hexenküche.
Es brodelt heftig. Aber der Geruch und der Gestank fehlt. Ein deutlicher
Hinweis darauf, dass hier, bei aller Oberflächenwildheit, nicht Schluss
gemacht wird mit der Zivilisation, vielmehr die Sublimierung so weit getrieben
wird, dass noch die fleischlichste Ekstase vollkommen artifiziell wirkt. Vielleicht war Disco aber doch die weiter in die Zukunft weisende Linie. Denn aus dem Soundtrack zum verstörenden Seventies-Nightlife, das alles nachholen und vorwegnehmen wollte, als wüssten viele schon instinktiv, dass AIDS und der „backlash“ von Reagan-Amerika vor der Tür stand, wurde House, ein äußerst ausdifferenziertes Musik-Universum, deren Heroen, erst verhohlen, dann immer ungenierter, Fragment zu Fragment fügend, von „all that jazz“ angetrieben wurden. House war nicht mehr, als was man bei Disco vielleicht noch empfinden konnte, das neue „Stahlbad Fun“, die maschinell-seelenlose Rück- und Nachtseite einer gnadenlosen Arbeitswelt, sondern eher ein Labyrinth, das Verstecke für viele Abweichungen bereit hielt. Wer gehört dazu, wer nicht? Die House-Musiker in ihren wechselnden Masken und virtuosen Rollenspielen vermutlich eher schon. Und was ist mit Al Jarreau auf seiner „grand tour“ durch die europäischen Konzertsäle? Zuerst dirigiert er eine Mozart-Sinfonie, als hätte er einen Bild-Auftrag von Nina Simone übernommen. Und dann treibt er ein scheinbar steifes Publikum zu verrückten Mitmach-Späßen an. Regression des Hörens? Stahlbad Fun? Oder einfach nur all that jazz, ein wenig anders kostümiert. Helmut Hein |
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