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[<<< Teil 1] Als 1985 die Compact Disc eingeführt wurde, kannten die meisten von uns einen Computer nur vom Hörensagen. Wer konnte sich damals die Konsequenzen der Digitalisierung vorstellen? Wer hätte sich ausgemalt, dass Musikaufzeichnungen eines Tages im normalen Verbraucher-Haushalt nur noch als virtuelle Daten ohne physischen Tonträger existieren könnten? Immer mehr Künstler bringen heute keine neuen CDs mehr in die Läden, sondern stellen einfach ein paar neue Tracks ins Netz. Das Album als künstlerisches Statement stirbt. Das griechische Wort „krisis“ bedeutet „entscheidende Wendung“. Wohin die Wendung geht, ist noch nicht ganz klar, aber eines stimmt: Die Musikbranche wandelt sich auf entscheidende, nicht rückgängig zu machende Weise. Sogar anti-kapitalistische Hoffnungen keimen da auf, Utopien von einer künstlereigenen Basiskultur, eine Mischung aus Punk und United Artists. Denn je mehr sich das öffentliche Musikinteresse auf Hits, Beats und Remixes konzentriert, desto unwichtiger werden Vermarktungs- und Vertriebsstrategien, wie sie die Major-Firmen für physische Tonträger entwickelt haben. Immer mehr Musiker vermarkten sich selbst, gründen eigene Labels oder bieten Downloads auf ihren Websites an. Die Utopie heißt: Die Musikindustrie wird ausgehungert. Es könnte die Stunde der Independents werden. Im Augenblick stecken sie noch mit in der Krise der großen Plattenfirmen, weil sie die gewachsenen Handelsstrukturen brauchen, die ihrerseits vom Funktionieren der Majors abhängig sind. Aber andere Handelsstrukturen könnten entstehen: Dutzende kleiner, spezialisierter, gut informierter Fachhändler – das wäre eine Zukunftsperspektive auch für die Jazzbranche. Harmonia Mundi hat es in Frankreich mit einer landesweiten Kette von Boutiquen vorgemacht. Der HipHop-Musiker Chuck D. formulierte die Utopie einer neuen Musikbranche so: „Statt fünf weltweiter Major-Firmen wird es 500.000 bizarre Mikrostrukturen geben.“ Mikrostrukturen: Das sind Künstlerkollektive, Independent-Labels, Internet-Netzwerke, Fachhändler. Lauter Menschen, die von der Begeisterung für die Musik getrieben sind, nicht von der Gier auf das große Geld. Menschen, die hoch motiviert sind, in ihrem Enthusiasmus zur Selbstausbeutung neigen, zwischen Beruf und Berufung nicht trennen. Menschen, die keinen Ferrari in der Garage haben und keine schweineteuren Produktpräsentationen organisieren. Einfach nur Musikverrückte. Die Independent-Labels im Jazz waren schon immer solche Mikrostrukturen.
Da ging es um Talentsuche, Gespür für Trends, Begeisterung für
Neues. Und wenn man Glück hatte, gab es alle paar Jahre einen kleinen
Hit, der die Firma wieder für eine Weile über Wasser hielt.
Die Independents waren seit jeher der kreative Lebensnerv der Jazz-Entwicklung
– von den Pionieren wie Blue Note, Prestige oder Savoy bis hin zu
ECM, Black Saint oder Palmetto. Nun, da die Krise der Majors auch den
Jazzmarkt bedroht, treten die Jazz-Independents wieder verstärkt
auf den Plan. Sie schließen sich in lockeren Initiativen zusammen,
um der Krise zu trotzen und Weichen für die Zeit danach zu stellen.
Denn sie haben ein gemeinsames Interesse: den Jazz. Gerade die Independent-Jazz-Szene in den USA ist in den letzten Jahren sprunghaft gewachsen. Vielleicht spürte man dort das künstlerische Defizit der Majors schmerzlicher, vielleicht auch die Krise früher. Manche dieser jüngeren Labels haben bei uns kaum Medien-Aufmerksamkeit erhalten oder werden in Deutschland nicht einmal vertrieben. Nur ein paar Beispiele: Bob Rusch, der langjährige Herausgeber des Magazins „Cadence“, gründete 1995 das Avantgarde-Label CIMP, das Musiker wie Odean Pope und Frank Lowe präsentierte und heute einen Katalog von rund 300 Produktionen aufweist. 1996 meldete sich Joe Fields vom einst legendären Label Muse zurück: Auf seiner Marke High Note veröffentlichen ehemalige Muse-Künstler wie Larry Coryell und Mark Murphy, auf dem moderneren Schwesterlabel Savant: Arthur Blythe oder Eric Reed. In St. Louis startete Richard McDonnell 1998 MaxJazz, eine Mainstream-Firma mit vielen Vokalisten und Pianisten; der Trompeter Jeremy Pelt und der Pianist Geoff Keezer finden sich dort. Im gleichen Jahr wurde in Los Angeles durch Jeff Gauthier die Marke Cryptogramophone gegründet, die sich vor allem der kalifornischen Avantgarde widmet (Nels Cline, Zeena Parkins). 1999 folgte in Brooklyn OmniTone, das Label des im Indie-Marketing erfahrenen Frank Tafuri mit innovativen Mainstream-Musikern wie Jim McNeely und Joe Locke. Auch auf der amerikanischen Jazzszene schreiten Musiker zudem verstärkt zur Selbstvermarktung. Tim Berne (Screwgun), Peter Erskine (Fuzzy Music) oder Vinny Golia (Nine Winds) haben diesen Weg gewählt. Selbst renommierte Namen wie Chick Corea (Stretch) und die Marsalis-Brüder Branford (Marsalis Music) und Jason (Basin Street Records) sind ins Labelgeschäft eingestiegen. Auch in diesem Punkt war John Zorn der große Avantgardist der Szene: Nach traumatischen Erfahrungen mit Warner und Sony gründete er bereits 1995 sein Label Tzadik, das inzwischen einen quantitativ und qualitativ überwältigenden Katalog von über 300 CDs in acht Produktionsreihen besitzt. Offenbar auch einer dieser Musikverrückten mit Hang zur Selbstausbeutung. Hans-Jürgen Schaal
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