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„Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum
geboren“, heißt es, leitmotivisch, im Vorwort zu Nietzsches
„Der Antichrist“. Es ist die gegenwartsskeptische Antithese
zum unbedingten Aktualitäts-Gebot seines Zeitgenossen Rimbaud: Man
muss nicht „absolut modern“ sein. Nicht die Hörigkeit
dem Zeitgeist gegenüber, sondern seine Subversion garantiert ein
Begreifen (und Beeinflussen!) dessen, was kommt: Zukunfts-Mächtigkeit. Roy Ayers zum Beispiel, ein kultivierter älterer Jazz-Herr (er
ist Jahrgang 1940), verdankt seinen späten Wohlstand dem brennenden
Interesse vieler HipHopper der letzten Dekade an seinen minimalistischen
Themen: im Herzen der Finsternis begannen seine Samples zu blühen
und die düsteren Home Boys trieben ihren Roy Ayers-Kult so weit,
dass sie ihm tausend Dollar pro Tonfolge aufs Konto überwiesen. Das
war aber nicht der einzige Profit für Roy Ayers aus dieser verblüffenden
Wiederaneignung, die mehr eine subkutane Kooperation ist. Seine eigenen
Arbeiten vor allem aus den späten 70er Jahren wurden mit einem Mal
aktuell, „Avantgarde“: was schon für immer in den privaten
Archiven des seriösen und selbstbewussten Vibraphonisten verschollen
schien, wird jetzt zum dernier cri einer Zeit, die den historischen Sinn
verloren hat und gerade deshalb zu permanenten Revivals bereit ist. Held und Hype dieser Bewegung ist ein klassisch ausgebilderter Cellist und E-Musik-Composer, der Steve Reich nahe und mit John Cage auf der Bühne stand, bevor er in 70er-Kommune-Jahren buddhistische Musik-Mantras ersann, mit denen er kurzzeitig zum Darling der New Yorker Downtown-Kunstszene avancierte, und schließlich, jenseits der Konzert-Podien, die er weiter versorgte, in einer sinistren Dr. Hyde-Zweit- oder Zwillings-Existenz landete, die sich erst von Bubblegum-Repetition und kommerziellem Easy Listening faszinieren ließ, bevor sie den sich sofort erschließenden nächtlichen Reizen der Spät-70er-Disco-Tempel erlag. Jetzt kann man „The World of Arthur Russell“ (bei SoulJazz) scheinbar hautnah begegnen. Man lernt so einen Musiker, ja Musik-Strategen kennen, der zu den House- und Techno-Pionieren gehört und viele ihrer „Entdeckungen“ vorweggenommen hat. Zum Beispiel, dass Identitäten nur stören, wenn sich die anonymen Körper begegnen (sollen), und dass der Sound dem Rechnung tragen muss. Den raschen Wechsel der Moden und den Fanatismus des „Jetzt!“ quittiert er mit immer neuen Masken und Projekten: mal heißt er Felix, mal ist er ein „Dinosaur“, das stabile Autoren-Subjekt verflüchtigt sich, die Namen, die es noch zu verbürgen scheinen, werden zu „Fakes“ (also Fälschungen) und Fallen. Dazu kommt, dass A. R. schon früh wechselnde Kreativ-Kooperationen mit (scheinbaren) Nicht-Künstlern wie DJs und Remixern suchte und so Ursprung und Referenz der „Sounds“ neu definierte, lange bevor das im House-Kosmos üblich wurde. Es gibt postume Existenzen, es gibt aber auch glamouröse Untote, die seit Jahrzehnten durch Hotel-Lounges, späte Bars, verdunkelte Schlafzimmer und zur Not auch blinzelnde Frühstücks-Ecken gespenstern: Paul Desmonds „Take Five“ gehört dazu, einst von Dave Brubeck berühmt gemacht und jetzt, in einer roof-Kompilation, in zwölf fast durchweg aufregenden Versionen in seinem fortwirkenden Potential zu besichtigen. Die entscheidende Frage lautet: was muss alles passieren, damit etwas „up to date“, reiner Augenblick ist, wird oder bleibt. Die „Neuheiten“-Sucht der Industrie und der Medien kommt auf jeden Fall immer schon zu spät. Zu den postumen kommen die langsamen Geburten: zu ihnen gehört der seine „Jazz“-Existenz bis zur („bitteren“) Neige auskostende, sie musikalisch aber mit Vorliebe auf andere Terrains verschiebende Songwriter des anderen, verschollenen Amerikas: Townes van Zandt, dessen 60. Geburtstag jetzt, sieben Jahre nach seinem physischen, „bürgerlichen“ Tod, allenthalben gefeiert wurde. Es ist schwer zu sagen, ob Townes van Zandt zu Lebzeiten darunter litt oder es auch bloß bedauerte, dass immer nur die anderen, „ikonisierbaren“ Folk- und Country-Größen mit seinen abgründigen Liedern Charts-Erfolge feierten, während seine Heimat, selbst als „Familienvater“, die Honky-Tonk-Hölle und die Wildnis des eigenen Herzens blieb. Helmut Hein |
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