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Trommelwirbel. Der Ball zischt am linken Pfosten vorbei und zappelt aufgeregt im Netz. Jubel bricht aus in der großen Konzertscheune. Der nächste Trommelwirbel. Der Mann im blau-weißgestreiften Oberteil tritt etwas zu zaghaft gegen das Leder. Lehmann hält. Wildfremde Menschen fallen sich in die Arme. Und Pat Metheny strahlt von der Bühne herab. Wäre alles nach Zeitplan abgelaufen, hätte sich der Gitarrist eigentlich mitten in der zweiten Halbzeit der Verlängerung Deutschland – Argentinien die Gitarre umschnallen müssen. Doch er entschied sich dafür, das entscheidende Elfmeterschießen in den Saal projizieren zu lassen, und schaute zusammen mit dem Publikum zu, wie Deutschland bei der WM eine Runde weiter kam. Sein Schlagzeuger Antonio Sanchez ließ vor jedem Elfer die Sticks auf die Felle prasseln. König Fußball – wer geglaubt hat, dass ein ernsthafter Jazzfan keinen FIFAling auf das Spiel gibt, bei dem das Runde ins Eckige muss, der sah sich getäuscht beim Jazzbaltica Festival. Vor den im Schloss Salzau aufgestellten Bildschirmen versammelten sich regelmäßig Hundertschaften – auch bei Spielen ohne deutsche Beteiligung. Dass Metheny mit den Fans des hiesigen Teams fiebert, scheint zunächst so ungewöhnlich wie erfreulich, ist aber eben auch typisch für das Jazzbaltica Festival. Hier herrscht ein Familiengeist, wie man ihn bei wenigen anderen Veranstaltungen erlebt, sonst eigentlich nur noch beim Jazztival auf Schloss Elmau. Fans, Musiker, Journalisten – man begegnet sich völlig ungezwungen auf dem weiten Areal, das nur von einem Friedhof und ein paar Kuhwiesen gesäumt ist. Das schleswig-holsteinische Salzau ist ein Paradies für Autogrammsammler, für Jazzbegeisterte, die mal eben einen kurzen Schwatz mit ihrem Star halten wollen. Wer einmal dazu gehört zur großen Jazzbaltica-Familie, der muss sich schon ziemlich blöd anstellen, um nicht wieder eingeladen zu werden. Ich denke, das ist Brad Mehldau gelungen. Der kapriziöse Pianist brachte die Programmgestalter, das Fernsehteam und die Journalisten mit seinem störrischen Verhalten gegen sich auf – er weigerte sich etwa, Promotion für die gemeinsame CD mit Pat Metheny zu machen. Der vergeistigte Mehldau war als „Artist in Residence“ vor Ort. Abgesehen davon, dass er diese Verantwortung nicht allzu ernst nahm, konnte der schwierige Amerikaner begeistern. Er ist mittlerweile in einer ganz eigenen Dimension angekommen. Allein, wie seine Linke und seine Rechte losgelöst von einander in verschlungenen Linien über das Schwarzweiß rauschen, ist eine Sensation. „On Piano“ hat der Programmgestalter Rainer Haarmann diese Ausgabe des Jazzbaltica Festivals überschrieben. Und die Elfenbeinstürmer kamen in Scharen. Der erst 15-jährige Kalifornier Austin Peralta spielte virtuos Wunderkind, Stefano Bollani trieb im Trio oder im Duo mit Enrico Rava virtuosen Schabernack, mit Michael Wollny und Carsten Daerr stellten sich zwei der wichtigsten neuen einheimischen Piano-Stimmen vor. Der Amerikaner Robert Glasper ließ seine Rhythmusgruppe Strukturen aufbrechen und Ulrich Gumpert stellte mit seinem Quartett totale Freiheit gegen Formbewusstsein. Mulgrew Miller, Marcin Wasilewsi, Kenny Barron, Don Friedman, George Gruntz, Bobo Stenson – es herrschte der totale Klavierspieler-Overkill in Salzau. Doch auch andere Instrumentalisten kamen zu ihrem Recht: etwa der Posaunist Nils Landgren, dessen 50. Geburtstag kräftig nachgefeiert wurde. Er war Hauptsolist in der von Vince Mendoza geleiteten NDR Big Band, trat mit dem Jazzbaltica-Ensemble auf, legte sich mit dem Metheny-Trio plus Gästen mächtig ins Zeug, war gefeierter Überraschungseinsteiger beim Solo-Auftritt des neuen Soul-Stars Raul Midon, und schließlich wandelte er sogar auf dem Wasser. Nachts um 1 Uhr spielte er auf einem von zwei Künstlern angelegten, wunderschön angeleuchteten Steg, der in den Teich hinter dem Schloss ragt. Mit dem Bassisten Lars Danielsson und dem Vibraphonisten Christopher Dell spielte Landgren versunkene, selbstvergessene Musik. Atmosphärisch war dieses „Music On The Water“-Konzert nicht zu überbieten. Aber es gab auch andere Auftritte, die einen gefangen nahmen, etwa den des entfesselten Metheny Trios, den des total aufdrehenden Kollegen Bill Frisell, oder den der amerikanischen Sängerin Lizz Wright, die ätherische Singer-Songwriter-Stimmungen mit Gospelinbrunst veredelte. Die norwegische Sängerin Solveig Slettahjell zeigte sich mal wieder als Königin der Slow Motion, und der Soul-Sänger Raul Midon demonstrierte zu unserer Verblüffung, dass er eine Trompete und eine Posaune in seine Kehle eingebaut hat. Das Jazzbaltica Festival besitzt so viel Charme, verströmt so viel Nestwärme, dass man ein paar Aspekte gerne verzeiht: etwa das an Einfältigkeit nicht zu überbietende Catering, dann den Stress, den die vielen Konzertüberschneidungen verursachen. Auch, dass man musikalisch wenig Neues geboten bekommt: Wer auf Entdeckungen, Innovationen, neue Strömungen im Jazz aus ist, der ist in Salzau fehl am Platz. Hier wird das Etablierte gefeiert, das Bewährte, das Gediegene. Man verfolgt den Lauf des Mainstream und wirft einen Blick auf wenige Seitenarme des Hauptstroms. Aber vielleicht sieht das Jazzbaltica Festival seine Aufgabe auch einfach nicht darin, eine gültige Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Jazz zu liefern. Ssirus W. Pakzad |
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