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Rahsaan Roland Kirk, Multiinstrumentalist (7. August 1936, Columbus,
Ohio bis 5. Dezember 1977 Bloomington, Indiana)
Ich kann den Charakter eines Menschen an seinem Auftreten und die Geschwindigkeit der Hochbahn an ihren Geräuschen erkennen. Im Park verrät mir der Wind, welche Art von Bäumen mich umgibt, ich schmecke die Blätter. Mit traumwandlerischer Sicherheit finde ich zwischen dem Gewirr der Autos auf die andere Straßenseite. In meiner Alltagserfahrung verflüchtigen sich die Träume in die Realität, und die Wirklichkeit wird zur Traumzeit. Am meisten mag ich die Stunde zwischen drei und vier Uhr morgens. In einem Interview, das 1974 im Magazin „down beat“ abgedruckt wurde, haben sie mich ausnahmsweise einmal richtig zitiert: Zu den schönsten Augenblicken gehört es, spät in der Nacht oder frühmorgens vom Auftritt heimzukommen, und wenn du so richtig entspannt bist und es regnet, kannst du die Regentropfen hören, wie sie wie in Trauben zur Erde fallen, wie Akkorde, wie kleine Glocken, die aufeinander abgestimmt sind – das ist wie ein dauerndes Fließen und Schmelzen. Du brauchst auch keine Angst zu haben, wenn du den Donner hörst, weil du weißt, es ist wahrscheinlich Chick Webb oder irgendein anderer Schlagzeuger, der dort oben spielt. Ich mag die frische Luft nach dem Regen, so wie Coltrane, After The Rain. Schon bevor ich die Blindenschule besuchte, habe ich seltsame Klänge gehört und als Tongemälde wahrgenommen. Ich sah sie in meinen Träumen. Ein großes Unisono aus unterschiedlichen Melodien. Wer jetzt sagt, das sei paradox, versteht mich nicht. Ich denke, Ornette Coleman würde mich verstehen. Er hat etwas Ähnliches empfunden, als er die afrikanischen Trompetenorchester hörte, die ihm seine Seele zurückgaben. Auch die Musiker aus dem alten New Orleans würden mich verstehen. Wann immer ich dort war, habe ich mit ihnen gespielt, und es war jedes Mal ein beglückendes Gefühl. Ich kann diese ganze Unterscheidung in Avantgarde und Tradition sowieso nicht nachvollziehen. Für mich ist das alles eine großes Kontinuum. Wenn du zu diesen Hörnern greifst, kannst du nicht so tun, als hätten sie keine Geschichte. Ich habe mich immer vor den Großen vereinigt – vor Sidney Bechet, Don Byas, Lester Young und all den anderen. Zugleich verfolgte mich dieser Traum von der Simultanität der Klänge: zwei und dann auch drei Melodien – mächtig, wild, majestätisch und voller Energie. So bin ich in diesem Music Shop gelandet, um stundenlang Instrumente auszuprobieren. Einzelne gefielen mir ganz gut, aber sie wollten einfach nicht mit anderen zusammenklingen. Dann führten sie mich in den Keller, wo der ganze Ramsch gelandet war. Und dort wurde ich fündig. Mit drei ausgedienten Tröten – dem Tenorsaxophon, einem gebogenen Sopransaxophon namens Manzello und Stritch, einem geraden Altsaxophon – habe ich mir meinen Traum erfüllt. Diese drei Kannen gleichzeitig zu spielen, war so ungeheuerlich, dass es mich selbst fast weggeblasen hätte. Allmählich habe ich meinen Klang aufgebaut – einen dreidimensionalen Klang, einen Raum, eine Offenbarung. Im Grunde bin ich eine Einmannkapelle. Wenn du als Straßenmusiker an einer Kreuzung stehst, bist du immer deine eigene Band. Duke Ellington hat einmal gesagt: Ich bin ein ambulanter Sänger. Ich bin ein blinder ambulanter Sänger. Und ich höre am Klang, ob es eine kleine oder ein große Münze ist, die in den neben mir liegenden Hut fällt. Dass sie mich immer auf eine Zirkusnummer festlegen wollten, fand ich fies. Lionel Hampton stempelt man ja auch nicht als Clown ab, nur weil er Vibraphon spielt. Einer der wenigen, die mich sofort verstanden haben, war Charles Mingus. Er kommt aus der gleichen Ecke, kennt sich in den erdbehafteten Bluesharmonien und in den zum Himmel fliegenden Gospels ebenso aus wie in den Sounds der Gegenwart. Alles ist Sound, ist Musik – die Schritte derer, die mir entgegenkommen, der Regen, das Kreischen der Hochbahn, das Hupen der Autos, der nächtliche Atem meiner Frau Dorthaan, mein eigener Herzschlag. Ich liebe die vertrauten Klänge, und ich suche nach neuen, finde immer neue Instrumente dafür. Als ich mit Glocken, Gongs und Sirenen auf die Bühne kam, dachten einige, das wären Gags. Ich aber sage, das ist ebenso ernst gemeint wie Zwölftonmusik. Mich fasziniert das Spektrum des Klingenden, immer auch die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen. Deshalb habe ich die Zirkularatmung und die Überblastechniken gelernt und angefangen, die Querflöte wie ein afrikanisches Instrument zu spielen. Mir gefällt die Gleichzeitigkeit von Dingen, die scheinbar nicht zusammenpassen, so wie Charles Ives, der es liebte, wenn Kapellen durch den Park spazierten und simultan unterschiedliche Stücke spielten. Ich denke, dass Charles Ives die Klänge gemocht hätte, die ich aus meinen alten Saxophonen heraushole. Klar, dass ich ein Entertainer bin. Wer auf der Straße gespielt hat, muss Entertainer sein, wenn er überleben will. Ich spiele klassische schwarze Musik. Man muss es nicht Jazz nennen. Im Blues ist alles enthalten, aber der Blues ist kein Museum, sondern ein Blueprint für die Zukunft. Es ist wahr, dass ich mit Jimi Hendrix und auch mit Frank Zappa gejammt habe. Die Rocktypen, besonders die in England, sagen immer wieder, dass sie viel von mir gelernt hätten. Mich lehren meine Träume. In ihnen wird mein Atem zum Feuer und der Klang zum Kugelblitz. Sie haben mich unter dem Namen Ronald ins Taufregister eingetragen. Aber eines nachts war mir klar, dass es Roland heißen muss. Später, ebenfalls im Traum, kam Rahsaan, der zweite Name. Einige meinen, das wäre islamisch. Das mag sein. Für mich ist es universell und vor allem Klang: Rahsaan. Wie ich über die Krankenschwester denke, die mir als Zweijährigem die falschen Augentropfen eingeträufelt hat? Ich denke nicht darüber nach. Ich folge meinen Träumen, und ich arbeite daran, nach meinem Schlaganfall mit einer Körperhälfte wieder drei Instrumente spielen zu können.“ Rahsaan Roland Kirk starb, 41-jährig, nach einem zweiten Schlaganfall auf der Fahrt von einem zum nächsten Konzert an Herzversagen. Bert Noglik |
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