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Rund 40 Jahre ist es her, dass Carla Bley, Komponistin, Pianistin und Bandleaderin der besonderen Art aus den USA, mit dem „Escalator over the Hill“ ein Werk aus der Taufe hob, das zwar unter ganz bestimmten zeitspezifischen Bedingungen entstanden war, aber seine Wirkung bis heute hat. In den Archiven und hinteren Regalen der Plattenregale schien das Goldene 3-LP-Album zu verkümmern, als Carla Bley eingeladen wurde, es bei der Kölner MusikTriennale 1997 zum ersten Mal live (ur-)aufzu- führen.
Da fehlten zwar Schlüsselfiguren der Platteneinspielung von 1968 bis 1971 wie Don Cherry, Gato Barbieri, Jeanne Lee, Linda Ronstadt, John McLaughlin oder Jack Bruce, aber es entfaltete sich noch einmal mit Musikern wie Linda Sharrock oder Wolfgang Puschnig der ganze Reichtum, die Vielfarbigkeit zwischen Free Jazz, Avantgarde-Popmusik im Stile des Amerikanischen Underground, Zeitgenössischer Musik oder deutlichen Einflüssen aus Indien, die in ihrer Verarbeitung ganz offensichtlich einen Reifegrad erreichten, der diese Musik bis heute unerreicht und immer wieder von Neuem aufführungsfähig macht. Die Geschichte über das dadaistische Leben von Ginger, David, Calliope Bill, Jack und vielen anderen in einem Hotel in Indien basierte auf Texten des New-Yorker-Village-Poeten Paul Haines, der während der Entstehungsphase nach Indien zog. Er war selbst bei der Kölner Uraufführung anwesend, trug seine Texte als „Narrator“ vor. Offiziell nannten die beiden Erfinder dieses phantastische Opus „A Chronotransduction“, übersetzt Zeitdurchdringung, ein schönes Bild für die Wanderung durch musikalische Zeiten und Bilder, Sprachen und Genres, im Sprachgebrauch untereinander aber schlicht Oper, was sich dann allgemein einbürgerte. Natürlich hatten sie auch eine komplette Bühnenaufführung ge-plant, die aber mangels Gelegenheiten oder Geldes nie realisiert wurde. Mit dabei sein sollte nach Carla Bleys Erinnerung auch ein „Fliegender Teppich“. Zweimal wurde der „Escalator“ bei der Kölner MusikTriennale in Köln aufgeführt, um dann anschließend auf Europatournee zu gehen. Und ein Jahr später erbarmte sich ECM und brachte das Anfang der 70er-Jahre bei JCOA, dem Label der gleichnamigen Musikerorganisation, erschienenen 3-LP-Album als 2-CD-Kassette heraus. In diesem Jahr nun ist Carla Bley „Musician in Residence“
in der Essener Philharmonie, deren Intendant Michael Kaufmann aus seiner
damaligen Verantwortung für die Kölner Philharmonie heraus im
Jahr 1997 nicht nur wusste, was ihn erwartete, sondern an der Entstehung
wesentlich beteiligt war. Unabhängig davon ist es schon etwas Einmaliges,
dass eine deutsche Philharmonie Musiker aus dem Bereich Jazz als „Musician
in Residence“ einlädt; ein besonderes Verantwortungsgefühl
für aktuelle und kreative Musik wird darin deutlich, wie man es oft
aus anderen europäischen Ländern kennt, weniger aber aus dem
Land Beethovens oder Mahlers. Gleich zu Beginn stellte sich für den Hörer, der den Underground-Aufbruch quer durch Jazz und Pop um das Jahr 1970 mitgemacht hatte, wieder die Erinnerung an die Faszination der schönen, schrägen, lauten und ergreifenden Passagen von Don Cherry bis zu Linda Ronstadt ein. Passend dazu hatte Carla Bley im vorbereitenden Interview erklärt, dass die so genannte Konzept-Musik der Beatles mit ihrem Sgt. Pepper- oder dem White Album sie in eine Richtung gebracht habe, die mit ihrem 1967er-Album „Genuine Tong Funeral“ zusammen mit Gary Burton ihren Anfang nahm und schnurstracks zum „Escalator“ führte oder auch zu dem „Liberation Music Ochestra“-Album zusammen mit Charlie Haden. Dessen neue Aufnahme „Not In Our Name“ (Universal France 0602498292488) mag sie sehr, ist ein wenig traurig darüber, dass es nicht so gut angekommen ist wie die erste Ausgabe. Auf die Frage, ob denn damals die politische Situation, Vietnamkrieg und so weiter, ihre Arbeit beeinflusst habe, verneint sie: „Vielleicht unbewusst. Als ich das Liberation Orchestra gründete, war ich gar nicht an Politik interessiert. Heute bin ich mir viel mehr bewusst, was alles passiert. Damals wusste ich nicht, was alles falsch war. Es waren Charlie und viele andere, die an den Märschen durch Washington teilgenommen hatten. Ich hatte nicht das kritische Bewusstsein, das ich heute habe. So hat meine CD „Looking for America“ (WATT/ 31) eine Menge politischer Bezugspunkte und Bedeutungen. Escalator hatte für mich keine politische Bedeutung. Es ging um die Texte von Paul Haines und ich wusste eigentlich auch nicht, was sie bedeuteten. Niemand weiß es wirklich, auch nicht die Sänger. Paul Haines starb vor zwei Jahren. Bei der letzten Aufführung in Köln saß er am Tisch auf der Bühne. Ich bin so froh, dass das damals möglich war.“ Ihren ursprünglichen Plan, mit einem Tisch und leeren Stuhl an ihn zu erinnern, gab sie wieder auf, hätte sie doch voraussetzen müssen, dass das Publikum diesen Bezug verstehen konnte. Haines Rolle als Erzähler verteilte sie auf einige der Mitwirkenden, auf David Moss, den Posaunisten Christian Muthspiel und vor allem auf ihre Tochter Karen Mantler, die nicht nur die Keyboards bediente oder Vokalrollen auszufüllen hatte, sondern auch im Hintergrund, in der Organisation eine wichtige Rolle spielte. Carla Bley dazu: „Und ich brachte meine Tochter mit, Karen Mantler, die alles organisiert, weiß, wann wer Proben hat, und in fünf verschiedenen Rollen singt.“ Wie schon bei der Kölner Aufführung hat sie das Originalwerk überarbeiten müssen, um es den örtlichen Gegebenheiten, der Instrumentierung und den besonderen Fähigkeiten der Musiker anzupassen. So schrieb sie die Rolle des Baritonsaxophons auf die Bassklarinette von Claudio Puntin um. Wolfgang Puschnig übernahm wie schon in Köln die Rolle des gewaltigen freien Spiels von Gato Barbieri aus der Originalfassung. Von der Kölner Besetzung waren David Moss, Linda Sharrock, Wolfgang Puschnig, Ramesh Shotham und natürlich Steve Swallow dabei. Im übrigen rekrutierte sich das Team aus der Region und darüber hinaus zum Beispiel aus Mitgliedern des Vienna Art Orchestra, das in der Essener Philharmonie schon so gut wie zuhause ist, wie Ed Partyka oder Wolfgang Muthspiel. Aus der Region nahmen Axel Knappmeyer, Tenorsaxophon, Albrecht Maurer, Viola, Florian Esch, Trompete, Joannes Goltz, Posaune, und Thomas Alkier, Schlagzeug, teil. Begeistert war Carla Bley von den beiden neuen Sängern, Erika Stucky und Michael Schiefel. Erika Stucky hatte einen glanzvollen Bühnenauftritt als ausgemachte Kennerin der Musik aus der Zeit der Entstehung des „Escalator“, sang verbunden mit einer einfachen, aber eindrucksvollen Bühnenpräsenz ganz schlicht und höchst emotional, so ein wenig zu Ehren von Linda Ronstadt. Carla Bley merkte an, dass Schiefel nicht nur alles singen konnte, sondern sie sogar Töne erstmals entdeckte, auch wenn diese von Anfang an in der Partitur standen. Aber es war nicht nur ein großartiges Werk, das Carla Bley präsentierte, es hatte eine Menge Arbeit gemacht, die Musiker zusammenzubringen, das Konzept zu überarbeiten et cetera. Bertold Klostermann aus Essen hatte dabei als Berater gute Arbeit bei der Zusammenstellung des Ensembles geleistet. Im Augenblick des großen Erfolgs, der Begeisterung des Publikums, wusste Carla Bley eines ganz sicher: dass dies ihre letzte „Escalator“-Aufführung war. Sie glaubt allerdings, es nun so umgeschrieben zu haben, dass es jederzeit wieder aufgeführt werden könnte, zum Beispiel auch von ihrer Tochter Karen Mantler. Ende Juni wird sie in Essen mit ihrer Big Band eine Europa-Tournee starten, in deren Verlauf sie in Paris eine CD aufnehmen wird. Die Musik für diese Tournee hat autobiographische Züge, erinnert an ihre Anfänge in den 50er-Jahren. Nachdem sie als Zigarettenverkäuferin jahrelang in New Yorker und Kalifornischen Clubs den Jazz ihrer Zeit regelrecht internalisiert hatte, wie der Soziologe sagen würde, begann sie ihre eigene Karriere als Barpianistin im Black Orchard, der nun auch den Namen für ihr neues Programm gibt. Eine Suite mit Erinnerungen an die damalige Musik hat sie geschrieben, um die herum sich noch einige weitere Titel aus dieser Zeit gruppieren. Zur Weihnachtszeit kommt sie noch einmal nach Essen, um ein Programm von Weihnachtsliedern zu spielen. Sie freut sich auf die weihnachtliche Atmosphäre, die sie in Essen schon einmal erlebt hatte. Und der Besucher der Essener Philharmonie kann sich freuen, die vielen Aspekte der außergewöhnlichen Musikerin und Komponistin in ihrer Vielfalt erlebt zu haben. Hans-Jürgen von Osterhausen Hörtipps:
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