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Auf Einladung des Goethe-Instituts Salvador und der dortigen Musikhochschule hatte ich im Mai dieses Jahres Gelegenheit zehn Tage in Salvador, der Hauptstadt der Provinz Bahia in Brasilien, zu verbringen, um dort zwei Workshops zum Thema „Drum’n’Bass am akustischen Schlagzeug“ und „Ästhetik elektronischer Tanzmusik“ zu halten. Mit Andreas Kolbs Vorschlag im Hinterkopf, über die dortige Musikszene
einen Artikel für die Jazzzeitung zu schreiben, war ich unterwegs,
spielte und sprach mit Musikern aus Bahia, besuchte Konzerte, schaute
mir Proben und Unterricht an und versuchte, mir einen Überblick über
die so vielfältige Musikkultur zu verschaffen. Eines vorweg: Es bedürfte
eines Buches und nicht eines Artikels, die unterschiedlichen Rhythmen
und Stilistiken zu erklären, die sich allein in Bahia entwickelt
haben, und die sich wiederum enorm von den Stilistiken Rio de Janeiros
oder Sao Paolos unterscheiden.
Allein der Samba, der wohl bekannteste und wichtigste musikalische Exportartikel Brasiliens, hat regional so viel verschiedene Abwandlungen, Nuancen und Instrumentierungen, dass die verschiedenen Möglichkeiten, Samba zu spielen, allein schon eine Diplomarbeit in ethnischer Musikwissenschaft füllen würden. Aber darum soll es hier nicht gehen. Der für mich interessanteste Aspekt meiner Reise war, die Bedeutung der brasilianischen Musik im Alltagsleben zu erfahren, die Fähigkeit der brasilianischen Musik, andere Musikstile zu absorbieren und sich dabei völlig unverkrampft selbst treu zu bleiben. Salvador da Bahia ist eine der Städte Brasiliens mit dem größten Anteil schwarzer Menschen an der Bevölkerung. Insofern ist in der gesamten Kultur, in der Religion und besonders in der Musik, der Einfluss Afrikas besonders stark. Von Salvador aus traten Bands und Musiker wie OLODUM, Daniela Mercury oder Caetano Veloso ihren Siegeszug rund um den Globus an. Legenden wie Paul Simon erkannten das musikalische Potential dieser Stadt und produzierten mit Musikern vor Ort. Kaum eine Stadt der Welt ist so von Rhythmus und Percussion geprägt. Denn egal, wo man sich in Salvador aufhält, es gibt kaum einen Platz an dem es keine Musik gibt. Und überall wird gespielt, getanzt und laut mitgesungen. Ob man mit dem Bus fährt und ein Kid seinen Ghettoblaster mit einem der neuesten Axe-Hits aufjagt, vor dem sich vier Mädels postieren, um neue Tanzschritte zu üben. Im Restaurant, wo die Mutter ihr schreiendes Baby aus dem Kinderwagen nimmt, um ein paar Runden zwischen den Kellnern Samba zu tanzen und lauthals mitzusingen. Oder nachts in der Altstadt am Pelourinho, wenn Großmütter zu den Trommelklängen von OLODUM tanzen, als gälte es, sich für ein Video von Destinys Child zu bewerben. Dabei wird deutlich, wie generationenübergreifend die Musik Brasiliens, im wahrsten Sinne, gelebt wird. Und wie fremd sich dies für den Europäer anfühlen muss, dessen Sohn allein auf Eminem steht, dessen Frau ausschließlich Klassik hört und dessen Neffe nichts ausser System of a Down gelten lässt. Natürlich sieht man auch in Bahia Kids mit allen Accessoires eines „Gangsta“-Rappers, mit Metallica- oder Iron-Maiden-T-Shirts, und ein Banker im Anzug sieht nicht wesentlich anders aus als sein Kollege aus Wuppertal. Am Abend aber tanzen sie alle (im 50-Cent-Shirt oder Zweireiher, der Rentner und der Pubertierende) zu ihrer Musik, einer Volksmusik im eigentlichen Sinne: Samba, Frevo, Baiao vereint alle. Besonders spannend fand ich dabei, dass diese Volksmusik im besten Sinne des Wortes keinerlei Berührungsängste mit anderen Kulturen, Musikstilen und Techniken hat. Ich habe in Salvador beispielsweise Bands wie Nacao Zumbi gehört, die ursprünglich religiöse Maracatu-Rhythmen mit einem Sound ähnlich dem der Red Hot Chilli Peppers kombinieren oder Avantgarde-Percussionisten wie Ricardo Siri, die Samba machen, indem sie mit einer Flex auf der Bühne einen alten VW-Käfer rhythmisch traktieren. Alles ist möglich und wird zumindest ohne Vorbehalte ausprobiert. Vielleicht sind es gerade diese Offenheit und die ständige Weiterentwicklung durch andere Kulturen, die der eigenen Musik eine ständige Frischzellenkur verpasst, ohne die Erbmasse zu schädigen. Und dabei für alle, auch die Jungen spannend und interessant bleiben lässt. Bei einem meiner Workshops wurde ich von einem jungen Schlagzeuger gefragt, ob und wie sich denn „Drum’n’Bass“-Grooves mit brasilianischer Musik verbinden liessen. Da wir dies selbst schon einmal probiert hatten, begann ich die Melodie des Milton-Nascimento-Klassikers „Vera Cruz“ zu summen und spielte einige Drum’n’Bass-Beats dazu. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich ein Chor gebildet von etwa 40 Schlagzeugern, der (teilweise mehrstimmig) das Lied mit Text lautstark intonierten und sich von mir am Set begleiten ließ. Die Samba ist also keine heilige Kuh, sondern eher ein Chamäleon. Denkt man an die 50er-/60er-Jahre zurück, als Stan Getz den Samba mit dem Cooljazz vermengte und daraus der Bossa Nova entstand – so geht es dem Samba im Jahr 2006 mit Rock, HipHop und Drum’n’Bass. Und vielleicht ist es auch so, dass der frische Wind, den man von draußen reinwehen lässt, einen Musikstil erst haltbar und frisch bleiben lässt. Und dass die theoretischen Diskussionen im Jazz, wie sie in den 90ern von Wynton Marsalis und Stanley Crouch über das Wesen, die Reinheit und Richtigkeit dieses oder jenes Jazzstils angestellt wurden, der Musik so überhaupt nicht zuträglich sind. Noch klarer wurde mir dieses Verhältnis der Bahianos zur eigenen Musik, als ich bei einer Probe der so genannten „Bloco afros“ teilnehmen konnte. Die „Bloco afros“ sind eine für Europäer schwierig zu erklärende Art von „Verein“. Ursprünglich gegründet als schwarzes Pendant zu den „Escolas da Samba“ sind sie inzwischen eine Art eigenständiges Sozialsystem mit Trommel-Kursen für Kinder und Jugendliche, durch ihre Musik und Texte ein sozialpolitisches Sprachrohr der schwarzen Bevölkerung Bahias und eine Art soziales Netz für die Mitglieder. Ebenso haben sie natürlich ihre Bedeutung im Karneval von Bahia: Zu den wichtigsten „Bloco afros“ gehören OLODUM, Ile Aye und die Filhos do Gandhy. Der Unterricht für die etwa vier- bis acht-jährigen Kinder in Percussion wird völlig ohne jede Art von Noten gestaltet. Der Rhythmus wird vorgespielt und nach dem Gehör gelernt, es wird gesungen und immer wird dazu getanzt. Das ist ganz entscheidend, niemand trommelt, ohne dazu zu tanzen oder den Puls der Musik zu marschieren. Und selten habe ich bei Kindern dieses Alters ähnlich viel Freude und Lachen, aber auch Konzentration und Disziplin während des Musikunterrichts gesehen als bei diesen zwei Stunden, in denen Marcus von Ile Aye mit Ihnen getanzt, gesungen und getrommelt hat. Und wie gut bereits eine Samba von Fünfjährigen klingen kann, habe ich mir bislang nicht vorstellen können. Sicherlich ist die frühe und so lebendige Heranführung an das eigene Kulturgut, wie sie durch die „Bloco Afros“ gefördert wird, ein ganz wichtiger Grundstein für die Identifikation der jungen Generationen Bahias mit ihrer eigenen musikalischen Kultur. In jedem Fall wurde mir klar, warum die brasilianische Musik in allen ihren Facetten einen so starken Einfluss auf den Jazz und so viele andere Musikarten ausüben musste. Weil sie zum einen keinerlei Berührungsängste kennt und sich deshalb immer wieder neu erfindet, weil sie im Bewusstsein und Alltag nicht nur der Musiker, sondern der Allgemeinheit existiert und weil sich die Musikmachenden immer ihrer Wurzeln bewusst sind, ohne diese zum Altar zu stilisieren. Außer vielleicht Antonio Carlos Jobim. Aber einen Heiligen braucht jeder. Gerwin Eisenhauer
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