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Diese Band kennt kein Gestern und kein Morgen. Die Enttäuschung ist berlinerischer als Berlin selbst und darüber hinaus in fast jeder Beziehung unerreicht. Kollektivimprovisationen jenseits der Konvention treiben dir den Blutdruck hoch und hinreißende Soli lassen dir den Atem stocken. Dein Anstandsgefühl wird von schamlosen Witzen aufs Äußerste provoziert, während dich im nächsten Augenblick der Ausdruck heiligen Ernstes in den Gesichtern der Musiker ganz betroffen macht.
Die Enttäuschung trägt die schicksten Anzüge der Stadt, spielt die ranzigsten Instrumente und schlussendlich sind genau diese Eigenschaften der letzte Klunker, mit dem die verarmte Spreemetropole protzen darf. Doch die Hauptstädter gehen schlecht mit ihren Kronjuwelen um. Man könnte die Eintrittskarten verschenken und bräuchte im Jazzkeller 69 doch keinen Sitzplatz vorzubestellen. Die Band selbst nimmt sich noch weniger ernst, ihnen würde pro Jahr eine Probe im Schnelldurchlauf (30 Sekunden pro Komposition – aber was für vertrackte Stücke...) reichen. Platten? Irgendwelche Bänder werden hin und wieder veröffentlicht. Zufallsprinzip! Darüber hinaus wird der Schlagzeuger regelmäßig (und nicht im Spaß wie bei Helge Schneider) öffentlich als Idiot bloßgestellt. Einmal jedoch war alles anders und die Band erhielt tatsächlich Ovationen: Der Auftritt beim Jazzfest 2002 gehörte zum Besten, was das Festival zu bieten hatte. Sedal Sardan hatte den Berliner Festspielen die Türe ins Soultrane geöffnet und die Band zeigte im Bar Jazz-Ambiente alles, was Jazz groß macht. An diesem Abend strotzte die Musik vor Energie, alles schien aus dem Stehgreif, aus der Gegenwart geboren und dabei inspiriert bis in die Haarspitzen. Das um Alexander von Schlippenbach erweiterte Quintett um Rudi Mahall, Axel Dörner, Jan Roder und Uli Jenneßen spielte unverstärkt und ohne technisches Beiwerk, schöpfte tief aus der Geschichte und fegte die Regeln der Kunst vor laufenden Kameras schlitzohrig und unbarmherzig beiseite. In diesem Moment schien es so, als rissen sie ihre Zuhörer aus der Hyperwelt zurück auf den Boden der Gegenwart. So einiges an typischem Festivalsound, der uns bereits vergärend in den Ohren lag, fiel mit den ersten Tönen in sich zusammen. Mitten in den Resten stand Die Enttäuschung und patschte mit dem Fuß. Aber bitteschön: Wer Rudi Mahall mit dem großen Fuß patschen sieht, weiß was für ein metaphysischer Orkan den Club durchweht. Unbeirrbar, Hardcore, schweißtreibend. Die Blue Notes flimmern in den klirrendsten Farben. Dann krachen sie auf die Zuschauer herunter wie ein Gewicht von 16 Tonnen und du sitzt vor deinem Bier und kannst dich plötzlich nicht mehr erinnern was hinter oder vor dir liegt. Damals im Soultrane sind wir endgültig beim JazzFest angekommen.
Ich wünschte mir diesen Effekt hätte das Jazzfest immer auf mich. Die Enttäuschung schafft es sogar, diese Art Euphorie, die man im Jazzalltag normaler Weise nicht einmal mehr unter Einnahme von Stimulanzien erreicht, an einem der verlassensten Orte der Erde – dem inzwischen mangels Publikumszuspruch geschlossenen Exil des Jazzkellers namens Waati – zu reproduzieren. Apropos: Die Band hat so ein ganz spezielles halluzinogenes Ding drauf. Ihre Stücke variieren permanent das Tempo. Schnell, langsam, schnell, langsam, unmerklich schwankend. Während der Tempowechsel setzt ständig die Rhythmusgruppe aus, was doppelt irritiert. Die Melodie-Instrumente spielen völlig asynchron Motive und Geräusche. Bass und Schlagzeug machen sich einen Spaß daraus abwechselnd zu pausieren, für Leere zu sorgen und dann mörderisch geschlossen krumme treibende Rhythmen unter die Füße der Frontleute zu schieben. Eine musikalische Idee wird mit der Geschwindigkeit und der Ausdauer eines Spechts von jeder Seite behauen, dabei hebelt Die Enttäuschung deine Standpunkte aus den Angeln und wenn du es willst, dann verändert sie sogar deinen Blickwinkel. Aber um Gottes Willen, Die Enttäuschung spielt kein freies Ding, auch wenn Axel Dörner im Kreise der Improvisierten Musik bekannter ist als im Jazz. Nein, Die Enttäuschung ist Bebop 2000 von vier echten Typen, die sich nicht kümmern. Die Abende, an denen sie anstatt Eigenkompositionen aufzuführen in weniger als fünf Stunden das komplette Monk-Repertoire neu zusammensetzen, sind Legende. Rudi Mahall ist ein Abräumer mit kantigen Geschichten, ein Explosivgemisch mit schreienden Klarinettengesängen. Jan Roder fällt lässig die Asche von der Kippe auf den Bass, sein glasiger Blick hängt über einem zufriedenen Grinsen und er verteilt die Bälle in Sieg und Niederlage mit der gleichen penetranten Eigensinnigkeit. Axel Dörner, der eiskalte Engel, sieht „handsome“ aus – mit Hemd, Anzug und Frisur wie aus einem anderen Jahrhundert. Spielen tut er sowieso wie von einem anderen Stern, rhythmisch und stilistisch brillant, entschlossen und gänzlich unabhängig. Was aber gibt es für ein Geheimnis um Uli Jenneßen? Dieser krumm wie ein Jockey und mit irrem Blick hinter seinem Schlagzeug hockende Mann sieht sich dem permanenten Spott der Band ausgesetzt. Dabei schießt er ein spielentscheidendes Tor nach dem anderen. Bäng, bäng, knallt ein Trommelriff durch die Kneipe, Doubletime, Halftime, Aussetzer, kling, bäng, durchgedrückte Becken, die Schachzüge immer verwinkelter, immer meilenweiter der Erwartung voraus. Aber der Spott der Band ist ernst gemeint. Uli Jenneßen kämpft hinter dem Schlagzeug um sein musikalisches Überleben. Je mehr Tore Uli Jenneßen für die Enttäuschung schießt, desto mitleidloser sind die Witze der Kollegen. Als großen Showdown inszeniert die Band ganz unfreiwillig das Schlagzeugsolo zwischen zwei besonders exaltierten Bandkompositionen. All Eyes on Uli Jenneßen! Wie kann er seine Darbietung noch steigern? Er spielt auf dem Ride-Becken nichts als Swing! Ding, ding-a-ding, ding-a-ding, ding-a-ding. Minutenlang. Seine Körperhaltung friert zur völligen Erstarrung ein, der Blick ist ins Nirvana gerichtet. Wie lange hält Uli Jenneßen die Time? Die plötzlich schockartig eintretende Schwerelosigkeit trifft das johlende Publikum wie ein Orgasmus, Rudi Mahall aber guckt abschätzig darüber weg. In genau diesem Moment drückt ein Fotograf auf den Auslöser und die Bilder bestätigen: Jazz ohne Rücksicht auf Verluste. Al Weckert |
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