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Jazz war für die, die ihn betrieben, immer ein Risiko; man konnte daran sterben. Zunächst auf die banalste Weise: kein Geld; immer schlechtere Wohnungen; fragwürdiges Essen; wenig Schlaf; oft unterwegs; immer Hoffnungen, die sich nur selten erfüllten; so etwas ist ungesund. Man kann es nur ertragen, wenn man eine Vision hat oder, aus welchem Grund auch immer, nicht anders kann. Die frühen Jazzer und Blueser waren Getriebene; sie hatten den Teufel im Leib oder zumindest wie einst Robert Johnson einen Kontrakt mit ihm. Besessen kann man nur sein, wenn man jung ist; aber auch Besessene werden älter oder sie sterben früh. „Live fast, die young“ – das war zwar erst die Parole des Speed-Rock, aber es war bereits die Realität vieler Jazz- und Blues-Musiker. Und woran stirbt man „jung“? Am Übermaß und am Mangel. An der Fülle und an der Leere. Und, profaner, an der Sucht und am Suff; an Krankheiten, die in diesem frühen Alter immer auch soziale Stigmata sind; und an Verbrechen. „Schießen Sie nicht auf den Pianisten“, hieß es ein wenig frivol in einem letztlich doch düsteren Nouvelle-Vague-Klassiker. Das Drive-By-Shooting mag eine Erfindung der HipHop-Ära, der Gockelkämpfe der GangstaRapper, sein. Aber die oft tödliche Gewalt gehört untrennbar zur Geschichte des Jazz und des Blues. Früher begann der Tag mit einer Schusswunde? Ja, und noch öfter endete die Nacht damit. Es gab Musiker, die waren Opfer; es gab aber auch die Täter, die „Bösen“, die im Gefängnis landeten, Leadbelly zum Beispiel, zurecht oder nicht, wright or wrong, wer kann es sagen. Albert Ayler landete irgendwann im Fluss, wie auch immer, und ein Choleriker wie Charles Mingus prügelte seine Bandmitglieder, wenn sie nicht so spielten, wie er wollte. Aber immerhin starb keiner dran; und auch Mingus überlebte, vorläufig; in noch einer Ehe, in noch einem Projekt; er konnte sogar noch eine Autobiographie verfassen, ziemlich ungeschönt, bevor er an Muskelschwund starb. Und all die schwarzen Engel des Rock mit dem Blues auf den Lippen und dem Jazz, also der Sehnsucht und der Zerrissenheit im Herzen? Janis Joplin, die Maitresse des Begehrens, die alles war, nur kein Bunny; der wüste Dekonstruktivist Jimi Hendrix, der irgendwann erstickte, vielleicht nicht nur an Erbrochenem; oder Jim Morrison, dieser späte Rimbaud, der sich an etwas verlor („Ich ist ein anderer“), das er nicht mehr beherrschte; vielleicht sogar noch Mr. Cobain, den der „Teen Spirit“ verrückt machte, den er beschwor, und der sich eine Kugel durch den Kopf jagte, weil er alles sein wollte, nur kein Vorbild; so jedenfalls die Legende. Aber das waren schon Nachfahren – Weiße, die viel Geld mit einer Musik gemacht hatten, die anderen gehörte; den Schwarzen nämlich, die Erfindungen machten, die alles sprengten und die doch Hungerleider blieben, in fast allen Fällen. Selbst der späte, reiche John Lee Hooker, der genießt, was ihm widerfährt, obwohl er es jetzt nicht mehr so recht genießen kann, (nur mehr auf der Ebene des Scheins, des Phantasmas, des Imaginären, das andere willig bevolkern) bleibt seinem Trauma verbunden, der Armut, den Demütigungen. Glück heißt auch für ihn: entronnen sein; das heißt es ist eine bittere Partie. Jazz war „race-music“; die Musiker durften dort, wo sie spielten, nicht essen oder trinken. Sie waren Domestiken der Lust, des Schönen, das für andere bestimmt blieb. Achtung erfuhren Jazzer und Blueser zuerst und für lange Zeit in Europa; das heißt im Exil. Ein wenig Geld und viel hysterische, eigensüchtige Zuwendung, es blieb kalt und es half nicht über den Tag. Scheinbar half nur das „bolivianische Marschierpulver“, wie es später hieß, oder der dreckigere Stoff, den sich die Outcasts direkt in die Adern jagten. Clint Eastwood und Bertrand Tavernier, also wieder Weiße, haben später in wunderbaren Filmen (für Weiße?) voller Ambivalenzen davon erzählt. Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, heißt es bei Brecht; also zuerst das ökonomische, existentielle, auch erotische Überleben; und dann die Frage: Wie soll und kann es weitergehen mit der Kunst. Jazz war immer der Schwamm, der alles aufsaugte, der Ort der Passage; in der Nische musste er verrotten; und sei es auf eine betörend perfekte Weise wie beim Klassizisten Wynton Marsalis, der alles in Bernstein fasst. Heute, scheint es aber, muss man sich um den Jazz keine allzu großen Sorgen mehr machen; er lebt; nicht zuletzt, indem er sich bedenkenlos vermischt. John Zorn, der eben 50 geworden ist, verkörpert diese Lust auf das andere wie kein Zweiter. Er war, spätestens seit den frühen 80er-Jahren, der Mastermind und das charismatische Zentrum der New Yorker Szene. Er wechselte permanent die Seiten und blieb stets er selbst, ein Jazzer; auch in der Maske des No-Wave-Punks oder des Salonlöwen, ohne weiteres auch als Nebenerwerbs-Cowboy an der Seite der Violent Femmes. Er gründete in der Vor-Börsencrash-Yuppie-Ära die Golden Palominos und wusste schon sehr früh, dass Avantgarde vor allem Traditions-, speziell: Genrepflege, bedeutet. Er reflektierte, heftig blasend und doch konzeptuell kühl, über Godard (der sich wie kaum ein anderer Gedanken über Bilder und Geräusche und das Reich der abendländischen Töne machte), erkannte dann bei Ennio Morricone ein Potential, das nicht einmal dieser Tausendsassa ausgereizt hatte und schrieb in der Folge Dutzende von Filmmusiken. In den 90ern dann begegnete er seiner eigenen Herkunft, der jüdischen Musik, dem Klezmer, und man hatte mit einem Mal das Gefühl, das er sich nicht nur noch eine weitere Maske aufsetzte. Seine „Kristallnacht“ war ein klaustrophobischer Höhepunkt; er malträtierte sein Publikum, in der Hoffnung, dass es begreifen möge. Vielleicht ist das überhaupt die Situtation des Jazz; und seine Aufgabe. Vielleicht kann er nur so überleben. Helmut Hein |
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