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1) Benny Golson kam vom Luftschnappen in die Garderobe zurück und nahm rasch noch einen Drink vor der zweiten Show im „Apollo Theatre“. Gleich sollte es losgehen, noch einmal quer durch das Repertoire dieser Band, noch einmal „Salt Peanuts“, „A Night In Tunisia“ und „Dizzy Atmosphere“. Ein lauer Frühsommer-Abend im Juni 1956, eine lange Nacht und ein schwerer Job. Ein bisschen Routine wohl auch, und ein wenig Erschöpfung. Doch wie immer, wenn sie mit Dizzy spielten, gab es Höhenflüge, die all das aufwogen – nicht nur die erstaunlichen Soli des Leaders und der Bandmates, sondern auch dieses gemeinsame Abheben, dieses unbeschreibliche Wir-Gefühl eines Haufens exzentrischer Individualisten. Golson schaute auf die Uhr: noch zehn Minuten bis zum Auftritt. Der Stage-Manager rief die Band auf, sich zu sammeln. Da stürzte Walter Davis Jr. hinein und schrie: „Hört mal alle her, Brownie ist tot.“ Die Musiker liefen durcheinander wie Ameisen. Panik wie beim Ausbruch eines Brandes. Davis Jr. sprach mit brüchiger Stimme weiter: „Ein Autounfall, Richie Powell und seine Frau sind ebenfalls tot.“ Keiner wollte, konnte spielen in dieser Situation. Brownie, einer den hier jeder mochte, schätzte, ja geradezu verehrte, der 25-jährige Clifford Brown soll tot sein... Die Nachricht glich einer Katastrophe, die keiner wahr haben wollte. „Meine Herren,“ taumelnd vernahm Benny Golson die Stimme des Stage-Managers, „It’s time, everyone! Play!“ Natürlich war auch Dizzy völlig außer sich, doch zugleich war er schließlich der Brötchengeber und bei aller Genialität immer auch der Praktiker. Viel Motivierendes fiel ihm nicht ein, aber immerhin murmelte er etwas in der Art von „na macht schon, Jungs“. Als der Vorhang hoch ging, saßen sie alle korrekt, aber wie versteinert auf ihren Stühlen. Wer in die Gesichter der Musiker sah, merkte, dass sie weinten, auch ohne Tränen in den Augen. Die Show drohte ein paar mal abzustürzen, und Dizzy verzichtete gänzlich auf die üblichen Späßchen, die zu seinen Markenzeichen zählten. Während des Spielens zogen im Unterbewusstsein von Benny Golson Bilder und Klänge vorbei. Er sah Brownie auf einem Spazierweg mit dessen Frau LaRue und ihrem kleinen Sohn im Kinderwagen im Fairmount Park von Philadelphia. Er sah einen Trompeter in der Rolle des Träumers und des Kämpfers. Alles wurde von diesem warmen, bronzefarbenen Trompetenklang überstrahlt, ein Klang, der sich in langen Stimmungsbögen entfaltete, gleichermaßen robust und empfindsam, zuversichtlich und melancholisch. Benny Golson spielte die Stücke der Dizzy-Band, aber er hörte etwas anderes: er hörte den jungen Clifford Brown, der noch ganz nach Fats Navarro klang. Er hörte einen Musiker, der kometenhaft aufstieg – in den Bands von Tadd Dameron und Lionel Hampton, in denkwürdigen „Paris Sessions“, mit Art Blakey’s Jazz Messengers in einer für immer festgehaltenen Momentaufnahme, „A Night At Birdland“, in dem gemeinsam mit dem Schlagzeuger Max Roach geleiteten Quintett mit Richie Powell am Piano, dem Bassisten George Morrow und einem der Super-Saxophonisten Sonny Stitt, Teddy Edwards, Harold Land oder Sonny Rollins. Das war es, was sie Hard Bop in Reinkultur nannten, unverfälscht, authentisch, tief emotional. Zwei Jahre zuvor, vom Magazin „Down Beat“ zum „New Star of the Year“ gekürt, galt Brownie als ein Musiker mit einer glänzenden Zukunft. Ein Aufsteiger ohne Ellenbogen, ein Innovator mit Traditionsbewusstsein, nicht Allerweltsfreund, aber einer, mit dessen Verlässlichkeit sie rechnen konnten. Trompeter vor ihm wie Bix Beiderbecke hatten sich in jungen Jahren mit Alkohol oder – so Brownies musikalisches Vorbild – Fats Navarro mit Drogen umgebracht. Clifford war gleichermaßen begabt, aber er war clean. Und das im umfassenden Sinne: er war ein Mann, dem man nicht nur zutraute, sondern von dem man auch erwartete, dass er den Kurs des Jazz mitbestimmen würde. All das schoss Benny Golson durch den Kopf, nicht klar geordnet, aber in Bildern, Assoziationen, spitz auftauchenden Wendungen und sanften Wellen der Wehmut. Und während er einen Chorus über seinen eigenen Titel „Whisper Not“ spielte, kam ihm plötzlich eine andere Melodie in den Sinn, eine klingende Parallelwelt, die nur in den Gedanken existierte und die dann in Gestalt eines auf Notenpapier fixierten Stückes konkrete Form annahm. Am nächsten Tag stellte sich traurige Gewissheit ein. In der New York Times las Benny Golson vom Ableben Clifford Browns. Von Philadelphia kommend, auf der Fahrt nach Chicago, war der Wagen, den Nancy Powell fuhr, am frühen Morgen auf einer regennassen Autobahn ins Schleudern geraten. Clifford Brown, sein Pianist Richie Powell und dessen Ehefrau Nancy waren auf der Stelle tot. Den ersten schweren Autounfall hatte Brownie überlebt, den zweiten nicht. Für eine Sekunde dachte Golson: wen die Götter lieben... Nein. Golson nahm das Notenblatt und schrieb als Widmung über die Notenzeilen: „I Remember Clifford“. 2) Emma Anderson war 21 Jahre alt, als sie Clifford Brown kennenlernte, angehende Musikpsychologin und, wie sie sich selbst bezeichnete, „a music snob“. Sie arbeitete an ihren Thesen, deren eine lautete: „Jazz ist keine Kunstform.“ Sie mochte Clifford, seine ruhige, überlegene Art, seine Musik hingegen fand sie fürchterlich. In der Absicht, den jungen Mann von seinen hitzigen und wie sie empfand, mit schauderhaften Dissonanzen angefüllten Improvisation abzubringen, machte sie ihn mit einem ihrer Dozenten bekannt. Die drei trafen sich öfter, und Clifford Brown lud die beiden auch einmal in einen Klub ein, in dem er spielte. Emma Anderson war fest davon überzeugt, dass ihr musikalischer Mentor, Browns Spiel an den Maßstäben klassischen Musizierens messen und abkanzeln würde. Doch das Gegenteil geschah: er war fasziniert von Cliffords, wie er es nannte, in der Komplexität aufgehobener Schönheit. Wie sollte sie diese Klänge begreifen... Sie verbrachten lange Abende gemeinsam und sie lauschte seiner Stimme, als würde sie einem Trompetensolo von ihm zuhören. Er erzählte ihr von dem Autounfall, den er vor vier Jahren erlitten hatte. Von Juni 1950 bis Mai 1951 lag er im Krankenhaus, und anfangs glaubte er, nie wieder spielen zu können. Er begann, sich Stücke im Kopf vorzustellen, erst eine Trompetenstimme allein, dann zwei dialogisierende Stimmen mit der vitalen Kraft einer Rhythmusgruppe. Die Imagination dieser Klänge habe ihm geholfen, ins Leben zurückzufinden. Was denn Musik für ihn bedeute, fragte ihn Emma Anderson. Und Clifford antwortete: „Pure Beauty“. Sie begann, sein Spiel nicht mehr als Jazz, sondern als Klang wahrzunehmen, den Nuancen nachzuhören und sich in seine Welt hineinzuversetzen. Eines Abends fuhren die beiden nach Santa Monica Beach. In ihren Memoiren schrieb Emma Enderson später: „He asked me to marry his music and him.” Er spielte, begleitet von den Wellen des Ozeans, ein Stück, das er für sie geschrieben hatte, „LaRue“. Von Bert Noglik |
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