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Jazzzeitung

2006/06  ::: seite 4

berichte

 

Inhalt 2006/06

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / News / break
no chaser:
Jazzwerktätig
all that jazz:
Ausdruck. Welcher Ausdruck?
farewell: Abschied von Jackie McLean
jazzfrauen-abc: Flora Purim


TITEL


Die Kunst des Weglassens
Der Bassist und Komponist Manfred Bründl


DOSSIER


Getanzte Freiheit
Swing-Projekt des Landesmusikrats Hamburg


BERICHTE
/ PREVIEW

Mariza beginnt Deutschland-Tournee in Berlin || Torun Eriksen in der Dresdner Scheune || Bilanz Kemptener Jazzfrühling || Nils Wülker im Nürnberger Jazzstudio || „Klarinettissimo“
im Leeren Beutel Regensburg
|| Preview: Jazz Rally Düsseldorf – „Bingen swingt“ – JazzBaltica


 PORTRAIT / INTERVIEW

Susanne Abbuehl || Johannes Tonio Kreusch || Jan Garbarek || Clifford Brown || Der Grafiker Matthias Schwarz

 JAZZ HEUTE

Leserbrief: Jazz-Zeitung = Pop-Zeitung?
Hässlichkeit verkauft sich schlecht
Artwork und die Krise der Musikindustrie
Jazz als interkulturelle Sprache Europas
Die Band Sound Expansion symbolisierte im Europazug das Zusammenwachsen der EU


 PLAY BACK / MEDIEN


Braxton, Nabatov, Anker
Exemplarisch: drei Aufnahmen aus dem Katalog von Leo Record
CD.
CD-Rezensionen 2006/06
Bücher: Brass Band Renaissance und Geschichte des Saxophons
Noten. Noten für Flötisten, Gitarristen und Münchner
Instrumente. News


 EDUCATION

Ausbildung. Ausbildungsstätten in Deutschland - Fortbildungen, Kurse (pdf) (62 kb)
Abgehört 41 Soli von John Taylor, Chris Potter, Dave Holland und Kenny Wheeler
New Generations-Wettbewerb
Preis des Bayerischen Jazzinstituts geht an HDV
Jazzpädagogik in Bremen

Jazzausbildung im Bereich Musikpädagogik an der Bremer Hochschule für Künste


SERVICE


Critics Choice

Service-Pack 2006/06 als pdf-Datei (Kalender, Clubadressen, Jazz in Radio & TV (713 kb))

Bilanz Kemptener Jazzfrühling

Zehntausend kommen zum größten Jazzfest im Allgäu

Traditionell wendet sich der neuntägige Kemptener Jazzfrühling in der zweiten Hälfte den moderneren Spielarten zu. Dieses Jahr standen die vier letzten großen Konzerte im Kornhaus eigentlich unter dem Motto „Musikalische Weltreise”. Von Indien (Sigi Schwabs Percussion Project) über den Nahen Osten (Rabih Abouh-Khalil) und Spanien (Gerardo Núnez) sollte es nach Afrika (Jean-Luc Ponty & his group) gehen. Doch genauso gut hätte man von einem Festival der Saiten sprechen können.

Jean-Luc Ponty (Foto: Klaus-Peter Mayr).

Bild vergrößernJean-Luc Ponty (Foto: Klaus-Peter Mayr).

Sie dominierten nach den vielen Bläserklängen bei den Oldtime-Jazz- und Blues-Abenden der ersten Festival-Hälfte. Die interessantesten Konzerte lieferten JazzRock-Veteran Jean-Luc Ponty mit seiner elektrisch verstärkten und stark klangverfremdeten Geige und der Oud-Virtuose Abou-Khalil ab. Von dem Libanesen weiß man inzwischen, dass er die Kerne der arabischen und der westlichen Musik freizulegen und zu verschmelzen versucht. Im Zusammenspiel mit dem deutschen Pianisten und Saxophonisten Joachim Kühn gelang es ihm auf anregende und bisweilen verblüffende Weise.

Gespannter war das Publikum auf Jean-Luc Ponty, der sich sowohl was Plattenveröffentlichungen als auch Konzerte anbetrifft, recht rar macht. Im Grunde genommen ist sich Jean-Luc Ponty über 30, 40 Jahre hinweg treu geblieben. Was im Jazz nicht ganz ungefährlich ist, weil sich in drei Dekaden einiges entwickelt und viel verändert. Da könnte ein Konzept aus den 70er-Jahren wie ein alter Hut wirken. Damals hat der Franzose den Jazzrock mit auf den Weg gebracht. Was vor allem an seinem exotischen Instrument lag, der Geige. Und natürlich an phantasievoller Musik.

Dem Jazzrock ist Ponty, inzwischen 63 Jahre alt, immer noch verhaftet, wie das Konzert zum Ende des Festivals zeigte. Aber es ist auch etwas passiert, was die Musik von Ponty veränderte, besser gesagt bereicherte. Anfang der 90er-Jahre kam er in Kontakt mit westafrikanischen Musikern und lernte deren polyrhythmische Klangkonzepte kennen. Vorsichtig hat er sie in seinen Jazzrock eingebaut. Außerdem spielen seit vielen Jahren zwei junge westafrikanische Musiker in seiner Band mit und mischen ihren speziellen Rhythmus und Sound bei: der Bassist Guy Nsangué Akwa und der Perkussionist Taffa Cissé. Kurz und gut: Jean-Luc Ponty hat eine hervorragend aufeinander eingespielte Band, die nicht nur sichtlich viel Spaß an ihrer Musik hat, sondern auch faszinierenden Jazz macht. Vor allem Bassist Akwa, der aberwitzige Soli drauf hat und Schlagzeuger Thierry Arpino legen ein immer pulsierendes, dichtes und meist recht komplexes Rhythmusgeflecht, das Percussionist Cissé geschickt verfeinert und mit weiteren Klängen bereichert. Darüber tobt sich Ponty mit der Geige aus. Seine Melodien, meistens ein- und auch mal zweistimmig, fesseln nach wie vor, weil er ein begnadeter und virtuoser Melodienerfinder ist. Und weil er aus vielem schöpft, was die Jazzgeschichte bereitstellt: Da klingt mal ein wenig Stéphane Grappelli durch, der große Swing-Geiger, da blitzen John Coltrane und sein Bebop auf, da suhlt sich Ponty in der kräftigen Sprache des Jazzrock.

So war es nur logisch, dass Ponty bei der Stückauswahl einen großen Bogen schlug von der „Imaginary voyage“ aus dem Jahr 1976 über „Firmament“ (2001) bis hin zu aktuellen Kompositionen. Als starker Gegenspieler bei den Improvisationen wirkte der junge Franzose William Lecomte an den Keyboards, der ansonsten den Elektrik-Sound prägte. Jean-Luc Ponty ist in den vergangenen 15 Jahren sehr zurückhaltend beim Veröffentlichen neuer Platten gewesen. Der Ehrgeiz des Geigen-Meisters ist offenbar kleiner geworden. Auf der Bühne freilich sprüht er mit seiner jungen Band immer noch vor musikalischer Energie und virtuosen Einfällen. So kann er sich weiterhin treu bleiben.

Der Beginn des Kemptener Jazzfrühlings ist gewöhnlich der Oldtime-Jazz- und Blues-Abteilung gewidmet. Zweimal wurden dabei Louis Armstrong und seine Musik in den Mittelpunkt gerückt. Etwas Besonderes hat sich beispielsweise die „Louis Armstrong Revival Band“ um den Posaunisten Alexander Katz einfallen lassen: Katz holte sich gleich drei technisch versierte Trompeter ins neunköpfige Ensemble, um die Soli von Armstrong dreistimmig nachspielen zu lassen. Ein beeindruckendes Hörerlebnis; im Laufe eines Abends allerdings nützt sich dieser Effekt doch etwas ab. Da entschädigten  die Vokal-Einlagen von Trompeter Thomas Lange: Er imitierte Armstrongs heiseren Gesangsstil fast perfekt.

 Mit solch traditionellem Jazz lassen sich in Kempten auch bei der 22. Auflage des Festivals die Säle füllen – allerdings nicht mehr ganz so mühelos wie noch vor wenigen Jahren. Waren früher diese Konzerte schon lange vorher ausgebucht, werden nun regelmäßig auch an der Abendkasse noch Restposten an Tickets feilgeboten. Einzig eine der beiden Blues-Galen war von vornherein ausverkauft, als nämlich die phänomenale Sängerin Lilian Boutté und der Boogie-Pianist Christian Willisohn auftraten, beide Stammgäste und beim Kemptener Publikum besonders beliebt. Bisweilen hat man überhaupt den Eindruck, es braucht nur ein farbiger Musiker oder Sänger die Kemptener Bühne zu erklimmen, und schon tobt der Saal. Beim Auftritt der drei stimmgewaltigen Sänger Butch Williams, Brenda Boykin und Ron Williams bei der Blues-Gala Nummer zwei jedenfalls kochte der Kornhaus-Saal regelrecht. Auch die Jackson Singers brachten die vielen Zuhörer in der St.-Mang-Kirche mit Gospels und Spirituals gehörig in Bewegung. Nach einer längeren Pause solcher Musik war im Vorfeld nicht klar gewesen, ob diese Art von Gotteslob noch genügend Publikum anziehen würde. Die gute Resonanz freute die Veranstalter. In der Avantgarde-Schiene präsentierte zunächst der Tubist und Serpentspieler Michel Godard mit einem All-Star-Quintett („Cousins Germains“) eine zeitgenössische Facette des europäischen Jazz. Der Franzose brachte Bläser aus Österreich und Deutschland zusammen auf die Bühne (darunter die Saxophonisten Christof Lauer und Wolfgang Puschnig), die als gemeinsamen musikalischen Vorfahren die europäisch-zivilisierte Variante des Free Jazz haben, dabei aber ihre persönlich profilierte Eigenart und Eigenständigkeit bewahren. Denn jeder ist ein Spieler der unbekannten Melodien, ein Individualist des eigenen Tons, ein kühner Lotse in reißenden Musikgewässern abseits des Mainstream.
Pianist Alexander von Schlippenbach und sein Quintett mit dem skurrilen Namen „Die Enttäuschung“ machten sich im zweiten Avantgarde-Konzert die Musik des genialen Klavier-Exzentrikers Thelonious Monk zu eigen. Das unkonventionelle Ensemble kostete die eigenwillige Musik Monks solistisch und im Kollektiv virtuos und lustvoll aus. Das gelingt nur, wenn man sich in jahrelanger gemeinsamer Spielpraxis entwickelt.

Bands, die auf dem Avantgarde-Feld des Jazzfrühlings ackern, locken in der Regel um die 100 Zuhörer an. Bei den Konzerten der modernen Jazz- und Weltmusik-Abteilung hielt sich der Zuspruch ebenfalls in Grenzen. Nur Altstar Jean-Luc Ponty sorgte am Ende des Festivals nochmals für einen fast ausverkauften Saal (rund 500 Zuhörer).

Der Publikumsandrang bei den vielen Kneipen- und Club-Konzerten war mal mehr, mal weniger groß. Insgesamt wurden rund 10.000 Zuhörer gezählt, was Festival-Chef Hansjürg Hensler am Ende sehr zufrieden stimmte. Immerhin liegen die Zahlen in etwa derselben Höhe wie in den vorigen Jahren.

Klaus-Peter Mayr

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