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Vom Sturm und Drang bis zum Free Jazz und darüber hinaus war die europäische Ästhetik Ausdrucksästhetik. Kunst lebte von der Vorstellung, dass das Individuum das Bedürfnis und die Fähigkeit habe, „sich“ auszudrücken; dass es tief im Innern des Subjekts etwas gebe, das von Geschichte und Gesellschaft nicht versehrt und verzerrt und, deshalb!, zutiefst wertvoll sei. Kunst war, in der einen oder anderen Form, Opposition gegen das schlechte Bestehende und was sich da gegen die Zumutungen und Zurichtungen sträubte war die „reine“ Natur, die wahrer und wertvoller war als die Artefakte der Zivilisation. Die Kunst lebte vom Mythos, dass es anders ist und anders geht als alle meinen: der solide Handwerker wurde zum unberechenbaren Genie. Spätestens Samuel Beckett brach mit der Idee des Ausdrucks und den Illusionen, die sich an sie banden, vor allem der Vorstellung der Authentizität. Er wusste, dass der moderne Künstler einer ist, der immer zu spät kommt. Was er für das Eigene hält, haben ihm andere verpasst. Beckett glaubte auch nicht mehr, dass er etwas erzählen oder darstellen könnte, was nicht andere längst erzählt und dargestellt haben. Jede Liebesgeschichte hat unendlich viele Vorläufer. Wer etwas sagt und tut, sollte wissen, dass es schon sehr, sehr oft gesagt und getan worden ist. Vielleicht fühlt sich Samuel Beckett wie ein kleines Kind, das die alten Kleider seiner größeren Geschwister auftragen muss. Aber er macht aus dem, was unvermeidlich ist, eine Einsicht. Niemand ist der erste. Es gibt immer einen, der schon vorher da war. Becketts Stolz ist nicht die Erfindung, sondern die Zerstörung, nicht der Auf-, sondern der Abbau. Wenn er erzählt, dann setzt er alle anderen Erzählungen voraus. Seine Authentizität besteht im Bewusstsein all dessen, was es schon gibt. Es gibt keine Kunst, die weniger mythisch ist als die Becketts. Und doch ist sie selbst zum Mythos geworden. Sein erster veröffentlichter Roman „Murphy“ beginnt so: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“ Natürlich wird auf diese Weise die „Einsicht“ parodiert, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe. Und Beckett, oder Becketts Erzähler, fährt fort: „Murphy saß, als ob es ihm frei stünde, im Schatten ...“ Selbstverständlich reflektiert dieser böse Satz die unselige Debatte über Willensfreiheit oder Determiniertheit alles Geschehens, selbst dessen, was in unserem Innersten sich abspielt, die spätestens in der Antike begann und vermutlich in den neuesten Aufgeregtheiten um die Hirnforschung und ihre Konsequenzen noch nicht die letzten Zuckungen erlebt. Und was bedeutet das für den Jazz? Für den Ausdruckswillen von Musikern, die zusammenkommen, angeblich ohne zu wissen, was sie wollen und gleich tun werden? Also für die Improvisation, für die „freie Musik“ oder, im schlimmsten Fall, für die generationenlange Untugend der „Jam Session“? Man sollte konkret sprechen, also rede ich, pars pro toto, weil es Ähnliches sicher in vielen Städten gibt, über ein „Musica Prima“-Konzert in Regensburg, dessen Grundidee, auf den einfachsten Nenner gebracht, das Unvorsehbare, das Unerhörte ist. Ein Musiker, in diesem Fall der Saxophonist der „Negerländer“, Bertl Wenzl, versammelt um sich drei weitere Musiker, die er kennt, mit denen er auch schon gespielt hat, die aber noch nichts miteinander zu tun hatten. Vier Musiker, vier Instrumentalisten, die aus ganz verschiedenen musikalischen und sonstigen Zusammenhängen kommen und die jetzt, „spontan“, einander Wege eröffnen und verstellen sollen. Letzteres vor allem, denn die Erhöhung des Schwierigkeitsgrads ist ja, wie man nicht erst seit Alexander Kluges „Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ weiß, das A & O avancierter Ästhetik. Gibt es (gemeinsamen) Ausdruck, gibt es Authentizität, wenn sich Menschen nicht kennen? Was tut man, wenn man nichts miteinander zu tun hat? Das Übliche und Übelste, dass man sich nämlich „einschwingt“, einen gemeinsamen Groove findet, vermieden Bertl Wenzl und Co. an diesem aufregenden Aprilabend im Regensburger Leeren Beutel glücklicherweise konsequent. Statt dessen verhielt sich Manfred Schimchen, der eher aus schrägen Rock- und Performance- als aus Jazz-Kontexten kommt, zu seiner Gitarre wie Samuel Beckett zur vorgefundenen Romanform: Er zitiert Free Jazz-Wut und gerade weil er weiß, dass jede Form von Authentizität und, beunruhigenderweise, auch von Gefühl, immer schon „second hand“, nachgeboren, zitiert ist, kann er sich ungenierter verhalten als die, die noch die Vorstellung bannte, dass sie jetzt, erstmals, von sich sprächen. Und dazu keckert, kreischt, raunt er Sprachmüll wie von Jelineks Gnaden, der sich, sehr spät, zu einem unheimlichen Volkslied verdichtet: „Bluatmensch“, heißt es da, aber nicht wie zum ersten Mal, „schiaß mi dod, damit endlich a Ruah is“. Bayern liegt da plötzlich ganz nah am Mississippi und Schimchen scheint sich plötzlich am „crossroad“ des ersten aller Bluesmusiker aufzuhalten, ohne dass irgendetwas behauptet oder vorgegeben werden muss. Dazu streicht Stefan Göler, im Hauptberuf Zeichner, Maler und Betreiber einer Kunstschule, den Kontrabass mit einer nonchalanten Eleganz, als wolle er zu erkennen geben, dass jede Form von „Authentizität“ uncool sei. Und Markus Stark, der jüngste, sonst Bassist einer John-Lennon-Coverband, die in der Wiederholung die Wahrheit sucht, drischt auf sein Schlagzeug ein, dass man befürchtet, er würde es gleich zertrümmern. Ausdruck. Welcher Ausdruck? In Becketts Stück „Glückliche Tage“ schminkt sich Winnie, schon bis zur Brust in Mutter Erde versunken, solange sie noch eine Hand frei und eine Hoffnung im Herzen hat. Und im zweiten Akt ist sie dann bis zum Hals versunken in dem, was schon war. Was ist das? Free Jazz? Helmut Hein |
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