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Auf den frühen Durchbruch folgte die Depression. In der Wohnung von Gil Evans hatte sie sich die Köpfe heiß geredet und schließlich während eines mehrwöchigen Engagements im New Yorker „Royal Roost“ eine neue Musik in die Welt gesetzt: „Birth Of The Cool“. Impressionistische Tongemälde mit Tuba und Waldhorn, ein neuer Klang im Jazz, durchzogen von Miles Davis’ charismatischer Trompetenstimme. Gerry Mulligan (geboren am 6. April 1927 in New York) hatte Kompositionen und Arrangements beigesteuert, aber auch traumwandlerische Soli auf dem Baritonsaxophon. Wenn man den von irischen Einwanderern abstammenden, hochgewachsenen jungen Mann mit den kurzen roten Haaren damals gefragt hätte, was er als seine Profession begreife, hätte er geantwortet: Arrangeur. Und das bedeutete für ihn mehr als alles andere. In der Tradition von Billy Strayhorn begriff er sich als Klangspezialist. Mit einer von ihm zusammengerufenen Big Band hatte er eine Saison lang im Central Park geprobt. Eine Zeit, in der sie wie die Verrückten spielten, aber von niemandem engagiert wurden. Da brach er in Gleichgültigkeit aus, und die schlimmste Stufe dabei ist die Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst. Im Nachhinein fiel ihm ein Satz von Miles Davis ein: Man kann alles satt bekommen, auch die Depression.
Der Umschlagpunkt lässt sich konkret benennen. Es war jener Tag,
an dem er sein Baritonsaxophon aus der Pfandleihe auslöste und den
Plan fasste, sich mit seiner Freundin auf den Weg an die Westküste
zu begeben – 1951, im gleichen Jahr in dem Jack Kerouacs seinen
hymnischen Roman auf das Leben der Tramps, „On The Road“,
verfasste. Per Anhalter unterwegs zu sein kam Gerry Mulligan vor wie
ein Endlossolo auf dem Baritonsaxophon. Frei, ständig im Fluss,
zügellos, eruptiv. Am Ende der Reise bedauerte er wohl, dass diese
ein Ziel hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es so
weiter gehen können. Doch es war nicht nur die Kraft, die ihm allmählich
auszugehen schien, auch der letzte Dollar war – na ja, für
was wohl – ausgegeben. Klar, dass er für den besten, den progressivsten
Bandleader schreiben wollte. Doch das, was er für Stan Kenton arrangierte
durfte, war weniger kühn als das, was er in seinem Kopf hörte,
als er nachts, nach den ersten Engagements im „Lighthouse“ am
Strand von Hermosa Beach spazieren ging. Mit den Aufnahmen, die das Quartett von Gerry Mulligan mit Chet Baker 1952 einspielte, hat es sich einen unangefochtenen Platz in der Geschichte des Jazz gesichert – vergleichbar der Zusammenarbeit von Lennie Tristano mit Lee Konitz oder der von Charlie Parker mit Dizzy Gillespie. Der Mulligan/Baker-Sound entsprach dem westlichen Lebensgefühl oder, um präziser zu sein, dem Lebensgefühl der weißen, gebildeten amerikanischen Mittelschicht Anfang der 50er-Jahre auf eine so ideale Weise, dass sich mit dem neuen Klang auch ein beachtlicher kommerzieller Erfolg einstellte. Chet Baker avancierte überdies zu einer Life-Style-Ikone. Doch das Traum-Team des Baritonsaxophonisten mit dem Trompeter zerbrach bereits 1953. Zu verschieden waren die beiden wohl im wirklichen Leben, als dass sie ihrem Publikum länger hätten eine sorglose Eintracht vorspielen können. Bemerkenswert auch, dass sich Gerry Mulligan von der Erfolgswelle und der mit dieser verbundenen Erwartungshaltung in seinem kreativen Streben eher eingeschränkt fühlte, während Chet Baker damit keine Probleme hatte. Auf der einen Seite: Baker, der Naturbursche mit dem untrüglichen Gefühl für Melodik und dem Zeug zum jugendlichen Playboy. Auf der anderen: Mulligan, der intellektuelle Hipster mit der Berufung zum Klangschöpfer. Später auf das Quartett zurückblickend, sagte der Baritonsaxophonist, durchaus aus der Sicht eines Arrangeurs: Es ging nicht nur darum, das Instrument zu spielen, sondern eine neue musikalische Dimension zu ermöglichen. Als ich ihn im September 1995, vier Monate vor seinem Tod, interviewte, gab er zu Protokoll: „Ich habe eigentlich nichts gemacht, was man als Innovation bezeichnen könnte – mit Ausnahme der Tatsache, dass ich auf das Klavier verzichtet habe. Aber auch das war ja nicht wirklich neu. Manches ist überhaupt nur entstanden, weil sich bestimmte Menschen getroffen haben. Eine Folge von Zufällen. Ob es sich um Innovationen handelt, war mir dabei, offen gesagt, immer ziemlich egal.“ Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Ein Innovator kann sich in dieser Welt ganz schön einsam fühlen.“ Pianolos – was für ein seltsames Wort. Wer annimmt Gerry Mulligan, hätte am liebsten auf den Pianisten schießen lassen, liegt falsch. Bei den in der Tat innovativ orientierten Produktionen mit seiner Concert Jazz Band saß er zuweilen selbst am Klavier. Ende der 60er-Jahre kam es zu der von gegenseitigem Respekt getragenen Zusammenarbeit des Baritonsaxophonisten mit der Piano-Legende Dave Brubeck. Bereits 1957 war er mit dem Solitär unter den Klavier-Innovatoren, dem unvergleichlichen Thelonious Monk zusammengetroffen. „Ein glücklicher Unfall,“ erinnerte sich Gerry Mulligan, „bei dem ich mir ein paar Verletzungen zugezogen habe. Dennoch bin ich froh, dass wir es gewagt haben.“ In der letzten Quartettbesetzung von Gerry Mulligan saß Ted Rosenthal am Piano. Die gemeinsam eingespielte Platte „Dream A Little Dream“ gleicht einem musikalischen Testament. Da gibt es „Song For Strayhorn“ zu hören aber auch Titel, die der Baritonsaxophonist einst mit Chet Baker gespielt hat: „My Funny Valentine“ und „Walking Shoes“. Das alles ist schön und empfindsam. Wirklich zu bewegen vermögen vor allem die Aufnahmen vom Anfang der 50er-Jahre. Musik mit einer unglaublichen Frische, so elegant, so grazil, so verspielt und luftdurchzogen wie ein Mobile von Alexander Calder. Mit den „Walking Shoes“ war Gerry Mulligan einst nach Los Angeles getrampt. Und „My Funny Valentine“ bleibt unbeschreiblich wie eine unbeabsichtigte Liebeserklärung an eine keinesfalls den Idealvorstellungen entsprechende Schönheit. Das ist nicht lustig und auch nicht tragisch-komisch, sondern merkwürdig schwebend wie ein Klanggemälde im Zwielicht von kalifornischer Sonne und dem magischen Schein der Melancholie. Bert Noglik
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