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Jazzzeitung

2007/02  ::: seite 22-23

farewell

 

Inhalt 2007/02

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / News / break // kurz, aber wichtig
jazzle gmacht: Die Kopfgeburten des Jazz
no chaser: Der Piano Man (2)
jazzfrauen: Sarah Vaughan
Farewell: Abschied von Alice Coltrane und Leroy Jenkins / Oscar adé!


TITEL

Jazz-Handelszone
Beobachtungen auf der Bremer Jazzmesse


DOSSIER
- Fußwärmer und Knochenschüttler
Die Münchner Dixieland-Bewegung


BERICHTE
/ PREVIEW
Joachim Kühn und Ornette Coleman in der Philharmonie Essen || „Women in Jazz“ im verflixten zweiten Jahr || Zu Besuch bei der 39. Arbeitsphase des BuJazzO


 PORTRAIT / INTERVIEW
Baritonsaxophonist Gerry Mulligan || Holly Cole || Susi Hyldgaard spricht über ihre Band in die neue CD || Pianist Leonid Chizhik || [re:jazz] || DEPART

 JAZZ HEUTE
Feature-Ring
Dresden


 PLAY BACK / MEDIEN

CD.
Das arabische Konzept der Verzückung
CD.
CD-Rezensionen
CD.
Analog - Digital
CD.
Critics Choice
CD. Scheffners Liste
DVD. DVD-Rezensionen
Bücher:
Neue Jazzbücher auf Englisch || Julio Cortazar: Der Verfolger
Noten. Volkmar Kramarz: Die PopFormeln und anderes


 EDUCATION
Ausbildung. Ausbildungsstätten in Deutschland - Fortbildungen, Kurse (pdf) (62 kb)
Abgehört 48. Teil 2: Keith Jarrett und Brad Mehldau improvisieren über „Prism“
Jazz macht artig
Semesterabschlusskonzerte der Hochschule für Musik Köln
Jugend jazzt:
„Jugend jazzt“ kommt nach Halle

Kosmische Musik

Abschied von Alice Coltrane und Leroy Jenkins · Von Marcus Woelfle

Sie war Pianistin, Organistin, Harfenistin, Bandleaderin, Komponistin. Alice Coltrane war Gattin eines Jazzgiganten, Mutter von Jazzmusikern und als Witwe John Coltranes die Hüterin seines Nachlasses. Schließlich wurde sie sogar noch religiöse Führerin amerikanischer Hindus. „Die Musik ist in Deinem Herzen, Deiner Seele, Deinem Geist. Sie ist wirklich nicht in einem intellektuellen Bereich Deines Gehirns. Und das ist alles was ich tue, wenn ich am Klavier sitze. Ich gehe hinein.“ (Alice Coltrane)

Ein Fotograf, zwei Künstler: Hans Kumpf fotografierte die Multiinstrumentalistin Alice Coltrane verborgen hinter Ihrer Harfe

Bild vergrößernEin Fotograf, zwei Künstler: Hans Kumpf fotografierte die Multiinstrumentalistin Alice Coltrane verborgen hinter Ihrer Harfe

Ein etwas ungewöhnliches Platten-Debut eröffnet ihre Diskographie: „Terry Gibbs Plays Jewish Melodies In Jazztime“. Und doch steckt Symbolik darin: Die Wurzeln in der Pianistik Bud Powells offenbart es ebenso wie es den Weg zum Osten schon andeutet.

Am 27. August 1937 erblickte Alice Coltrane als Alice McLeod das Licht der Welt. Ihre Geburtsstadt war Detroit, die Heimstätte so vieler großer Jazzpianisten: Hank Jones, Tommy Flanagan, Barry Harris und Roland Hanna. Wer glaubt Alice Coltrane gehöre nicht in diese Gruppe überwiegend boppiger Pianisten, irrt. Wie ihr späterer Mann wurde sie zunächst als Bopperin bekannt.

Alice McLeod stammt aus einer musikalischen Familie und erhielt als siebenjähriges Mädchen Unterricht in klassischer Musik. Ihre Mutter sang und spielte Klavier in einem baptistischen Kirchenchor, dem sie auch beitrat. Ihre musikalische Laufbahn begann also nicht mit Jazz, sondern in der Kirche. Ähnlich wie sie endete, auch wenn es ein anderer Glaube war. Sieht man von den allerletzten Jahren ab, in denen sie sich wieder dem Jazz zuwandte, so hat sie ihre musikalischen Fähigkeiten in den letzten Jahren in den Dienst ihrer Gemeinde gestellt, Hindugesänge und Meditationsmusik produziert. Manchmal konnte man da die Gospelwurzeln ihrer Kindheit immer noch herausspüren, wenn von Jazz kaum mehr etwas übrig blieb, etwa auf „Radha-Krsna Nama Sankirtana“, 1976, kurz vor dem (aus Jazz-Warte) langen Schweigen.

Von ihrem Halbbruder Ernie Farrow wurde Alice McLeod an den Jazz herangeführt. Farrow war ein Bassist, der unter anderem mit Stan Getz, Yusef Lateef und Terry Gibbs musiziert hat. Als Teenagerin hatte sie schon Auftritte mit Sonny Stitt und Cannonball Adderley. In Detroit musizierte Alice Coltrane mit Größen wie Kenny Burrell, Lucky Thompson, Barry Harris und Yusef Lateef – ein Saxofonist, der sich damals schon von Musik und Religionen des Ostens inspirieren ließ.

1959 reiste Alice McLeod nach Paris, um bei Bud Powell zu lernen. Im Ausland heiratete sie den Jazzsänger Kenny Hagood. Jazzfreunde kennen ihn vor allem aus Live-Aufnahmen der späten 40er Jahre aus dem Bebop-Lokal „Royal Roost“ und dem wegweisenden Miles Davis-Album „Birth Of The Cool“. Unsere Pianistin und der Sänger bekamen eine Tochter, die spätere Sängerin Michelle Coltrane. Die Ehe ging bald in die Brüche.

In den 60er Jahren wurde sie beim Vibrafonisten Terry Gibbs bekannt, mit dem sie 1963 jene ersten Aufnahmen machte. Gibbs nennt sie „die netteste Person, mit der ich je arbeitete. Sie war eine richtige Lady.“

Als sie 1963 mit Gibbs im New Yorker Birdland auftrat, lernte sie John Coltrane kennen. Der Vibrafonist erinnerte sich: „Ich stellte Alice John Coltrane vor. Seine und unsere Band wechselten sich im Birdland ab. Vom ersten Abend an lauschte sie aufmerksam seiner Musik und ich spürte wie nach und nach ein neuer Einflußssin ihren Stil fand. Ich denke, das war der Wendepunkt in ihrem Leben. Natürlich war sie sehr von Bud Powell beeinflusst gewesen, doch sie suchte immer nach etwas anderem. Der erste Hinweis darauf, dass sie in eine abstraktere Richtung gehen würde, war unser Album mit jüdischen Songs. Es waren lauter Melodien in Moll und das schien zu dem zu passen, was sie vorhatte.“ Und bei anderer Gelegenheit erzählte Gibbs: „John Coltrane erkannte ihre Schönheit. Beide waren zwei scheue, schüchterne Menschen. Es war wunderbar anzusehen, wie sich ineinander verliebten.“

Sie verließ die Band des Vibrafonisten um John Coltrane zu heiraten. 1965 ersetzte sie den großen McCoy Tyner, den Pianisten des klassischen John Coltrane Quartetts. Die Anhänger Coltranes stieß dies vor den Kopf, denn Alice Coltrane war, zumal zu diesem Zeitpunkt, bei all ihren Fähigkeiten keine Pianistin vom Rang Tyners. Man sollte nicht unerwähnt lassen, dass sie es selbst bedauerte, dass das klassische Coltrane-Quartett auseinanderbrach. Auch war für Tyner die Situation bei Coltrane mittlerweile schwierig geworden, da er sein eigenes Klavierspiel im immer lauter und freier werdenden Spiel der Band kaum mehr hören konnte. Alice Coltrane hat klar gestellt, dass sie es nicht gewesen sei, die Coltrane in Richtung Avantgarde getrieben habe. „Von mir hatte er keine Anregung nötig. Doch interessanterweise beschlossen die Kritiker aus dieser Annahme heraus, mich nicht zu mögen. Zu einem gewissen Zeitpunkt hatten die Mitglieder des Quartetts befunden, es sei Zeit für einen Wandel und sind von sich aus gegangen.“

„ John zeigte mir, wie man vollgriffig spielt. In anderen Worten: Er lehrte mich, nicht auf einer Stelle zu bleiben und bei einem Akkordmuster zu bleiben“, erinnerte sich Alice Coltrane. „Als ich Mitglied der Gruppe wurde, spielte ich bloß innerhalb von zwei oder drei Oktaven, wie wir alle, um die Akkordgrundlage für die Solisten zu liefern. John jedoch sagte zu mir: „Du hast so viele Tasten. Warum spielst Du nicht so komplett, wie du kannst.“

Der elf Jahre ältere Saxofonist machte sie auch mit östlicher Religion, Philosophie und Meditation vertraut. Sie meditierten einzeln oder gemeinsam, und ihre dabei gemachten Erfahrungen flossen in ihre Musik und Titel ein. Bis zu seinem Tod im Jahr 1967 blieb sie in der Band des großen Tenoristen. Die letzten Aufnahmen Coltranes, darunter das posthume „Stellar Regions“ belegen, dass sie im Laufe der Jahre immer tiefer in ihre Rolle als Bandpianistin hineinwuchs, um schließlich eine kongeniale musikalische Weggefährtin zu werden.
Als John Coltrane 1967 starb, schwor seine Witwe, nicht mehr zu heiraten. Sie folgte seinem Pfad und zunächst blieb ihre Musik seiner recht ähnlich. Aber was heißt dies? Wer sich mit Jazzgeschichte beschäftigt, weiß, daß zu jener Zeit freilich ein Großteil aller jüngeren Musiker in der einen oder anderen Weise John Coltrane nachfolgten. Und unendliche viele Musiker tun es noch heute. Doch Coltrane ist ein Gigant mit so vielen Facetten, dass man beinahe alles mit Verweis auf ihn machen kann. Mann kann innig Balladen spielen, die auch Nicht-Jazzern gefallen oder explosivsten Free Jazz, der nur ganz Wenigen behagt. Man kann Musik machen, die auf kompliziertesten Harmonien basiert oder Musik, die ganz ohne Funktionsharmonik auskommt. Und das alles, indem man sich auf Coltrane beruft.

Und Alice Coltrane? Ihr hatte es John Coltrane, der hymnisch-ekstatische Verkünder der universellen Liebe, angetan. „Ich möchte Musik machen gemäß den Idealen, die John deutlich gemacht hat. Ein kosmisches Prinzip, ein spiritueller Aspekt soll – genau wie bei ihm – die Realität sein, die hinter der Musik steht … Ich weiß, wie sehr John sich gewünscht hat, diese Arbeit zu leisten.“

Der Zug ins Östliche verstärkte sich im Laufe der Zeit bei ihr im gleichen Maße, wie in ihrer Musik die überfallhafte Wucht der avantgardistischen Free Jazz – Ekstasen eher meditativen und hymnischen Stimmungen Platz machten. Dass Alice Coltranes Kosmos über weite Strecken sanfter oszillierte als der des frenetischen Improvisators, mag die einen gefreut, die Reduktion der von Trane errungenen avantgardistischen Komplexität mag die anderen geärgert haben. Auf jeden Fall ist es eine legitime Fortführung seiner Musik. Sie entsprach östlicher Beschaulichkeit weit mehr als die Musik ihres Gatten, der inneren Frieden eher suchte als selbst in der Musik verwirklichte.

Nicht nur durch die verstärkte östliche Meditativität klang die Coltrane-Musik bei Alice nun anders, sondern auch durch das Instrumentarium, das weit häufiger als bei John Coltrane oft durch exotische Instrumente erweitert wurde. Mit einem durch Oud und Tamboura verstärkten Hauch von Osten, ätherisch rauschend öffnete der Ex-Free-Jazz einer so in der Avantgarde noch nicht dagewesenen Friedfertigkeit die Pforten, die ebenso von ehrlichem spirituellem Bemühen getragen war, wie sie an zeitgenössisches Flower Power erinnert. John Coltrane hatte ihr zur Hochzeit eine goldene Harfe geschenkt. Das Zweitinstrument Harfe, im Jazz damals keineswegs weitverbreitet, erlangte nun in Alice Coltranes Musik Bedeutung. Ihre auf Anregung ihres Gatten entwickelte arpeggioreiche Klavierspielweise trug ebenfalls harfenartige Züge.
Dabei arbeitete sie mit Musikern, die in den Bands John Coltranes wirkten oder in seinem weiteren Umfeld im Rahmen des Free Jazz Berühmtheit erlangten. Sie hatten wie Pharoah Sanders, Archie Shepp, Rashid Ali, Jimmy Garrison und Roy Haynes bei John Coltrane musiziert oder waren wie Joe Henderson von ihm inspiriert worden. Ihre Bands waren also zum Teil mit denen ihres Gatten deckungsgleich. Allein dies gibt ihrer Form der Nachfolge schon eine gewisse Authentizität.

Nach dem Tod Coltranes brachte Alice Coltrane auf ihrem kurzlebigen Label „Coltrane Records“ das Album „Cosmic Music“ heraus, doch kam es bald zu einer Einigung und Partnerschaft mit Johns Label „Impulse“, das nun auch sie unter Vertrag nahm. (Die Geschichte des Labels ist detailliert in einem gerade bei Rogner & Bernhard erschienenen, lesenswerten Buch nachzulesen: „Ashley Kahn: Impulse! Das Label, das Coltrane erschuf“.)

Ihre frühen Alben unter eigenem Namen erschienen wie die ihres Mannes beim Label „Impulse“ und fanden im Gegensatz zu manchem späteren Werk Anerkennung bei Kritikern, darunter ihre berühmten Werke der Jahre 1970 und 1971: „Ptah the El Daoud“, „A Journey In Satchidanda“ und vor allem “Universal Consciousness”, das mehr als die anderen Alben die große Bandbreite der Musikerin zeigt. Vor allem arbeitete sie hier mit Streichern zusammen, ein Wunsch John Coltranes, der unerfüllt geblieben war. „Dieser Titel bedeutet wirklich kosmisches Bewusstsein, Selbstverwirklichung und Erleuchtung. Diese Musik erzählt von den verschiedenen Wegen und Kanälen, durch die die Seele hindurchgehen muß, bevor sie den erhabenen Zustand absoluten Bewusstseins erreicht“, kommentiert Alice Coltrane ihr Werk.

1970 ging sie nach Indien um bei Swami Satchidananda, dem Gründer des Integrale Yoga Institute, zu studieren. Alice Coltrane trat zum Hinduismus über und zog 1972 nach Kalifornien. Immer mehr zog sie sich selbst aus dem Scheinwerferlicht der Musik zurück um ihren inneren spirituellen Weg zu folgen.

1975 gründete Alice Coltrane das Vedanta Centre, seit 1983 lebt sie in den Santa Monica Mountains bei Los Angeles. Ihr Sai Anantam Ashram ist eine spirituelle Kommune zum Studium östlicher Religionen, wo überwiegend meditiert und gebetet wird. Sie wurde unter dem Namen Swamini Turiyasangitananda als Guru des Vedanta, des bekanntesten klassischen philosophischen System Indiens, bekannt. Sie veröffentlichte zwei Bücher mit spirituellen Texten. 1978 erschien „Monumental Eternal“, ein Bericht über ihre religiösen Erfahrungen. 1981 legte sie „Endless Wisdom“ vor, bestehend aus hunderten Schriften, nach eigener Aussage Offenbarungen aus göttlicher Quelle.

Zwischen 1978 und 2004 machte Alice Coltrane keine Platten mehr. Ihre musikalische Aktivität beschränkte sich auf das Komponieren von religiösen Gesängen, Hymnen, Meditationsmusik, die z. T. auf Kassetten Verbreitung fanden. Die letzten 40 Jahre hat Alice Coltrane neben ihrer religiösen Berufung das Erbe John Coltranes verwaltet. Zum Nachlass gehört auch ein großes Archiv mit Aufnahmen.

2001 war Alice Coltrane an der Gründung der John Coltrane Foundation beteiligt, die Stipendien an junge Musiker vergibt. 2004 kam sie aus der Versenkung zurück, als sie nach Jahrzehnten wieder ein Jazzalbum vorlegte, „Translinear Light“. Produziert hat es ihr Sohn, der mitwirkende Saxofonist Ravi Coltrane: „Ich wollte ein Dokument haben, das ich später gemeinsam mit meinen Kindern anhören kann. Ich möchte nicht eines Tages mit Bedauern feststellen müssen: ,Mit meiner Mama hab ich das nie gemacht.’“ Sie trat ihren Kindern zuliebe noch einmal ins Rampenlicht. Als Comeback war es also nicht gedacht. Dennoch spielte sie noch ein Album, das in diesen Tagen erscheint: „Sacred Language Of Ascension“. Auch ein weiterer Sohn, Oran Coltrane, seines Zeichens Altsaxofonist und Gitarrist, wirkt auf „Translinear Light“ mit.(Ein dritter Sohn, John Coltrane Jr., der 1982 verunglückte, spielte Schlagzeug.)

Am 12. Januar ist Alice Coltrane im West Hills Hospital and Medical Center in West Hills verstorben.

Was bleibt von dieser großen, oft unverstandenen Dame? Man hat über Alice Coltrane die Nase gerümpft, etwa als sie Aufnahmen John Coltranes 1972 auf dem Album „Infinity“ mit nachträglich hinzugefügten Streichern herausbrachte. Heute wird die seinerzeit verständnislos Belächelte schon mal als erste Remixerin gefeiert. Ihre Musik hat man als kitschig und überladen empfunden. Die vor kurzem erschienen Nachrufe zeigen da, zumindest bei uns in Europa, ein viel tieferes Verständnis. Jens Balzer schrieb in der „Berliner Zeitung“, Alice Coltrane habe mit ihren elf Soloalben bis 1979 „das aggressive Befreiungsstreben des Free Jazz ins Ozeanisch-Spirituelle“ erhoben. Und er vermerkt, „daß ihre Musik von großer, schwer greifbarer, die Kontinente und musikalischen Traditionen überwölbender Schönheit gewesen ist. Bei allem vordergründigen Harmoniestreben blieben ihre Alben durchweg von ganz undialektischer Unversöhntheit: Den Schmerz, durch den sie ihre Erleuchtung erfuhr, hat Alice Coltrane niemals vergessen.“ Von Sympathie getragen auch die Formulierungen von Pinky Rose in der „Zeit“: „Das Auflösen der kontrapunktischen Jazzakkorde ins Flächige trieb sie noch auf die Spitze und befreite die Männersprache Jazz vom Gestus der zur Schau gestellten Virtuosität. Ihre Hinwendung zu den östlichen Religionen und die Hinzunahme entsprechender Instrumente waren keine Flucht, sondern eine Forderung: die Platten … aus den frühen siebziger Jahren vermitteln bis heute eine überwältigende Sehnsucht nach einer Verschmelzung der Kulturen über nationale, religiöse und ethnische Grenzen hinweg.“

Es ist aufschlußreich, daß die deutschsprachigen (weniger die amerikanischen) Nachrufe so viel Neigung und Einfühlungsvermögen für eine Künstlerin zeigen, die man zu den Vorläufern der Weltmusik zählen müßte, zielte ihr Streben nicht auf das, was jenseits der sichtbaren Welt lag, letztlich auf die Harmonie der Sphären.

Leroy Jenkins versunken im Geigenspiel. Foto: Hans Kumpf

Bild vergrößernLeroy Jenkins versunken im Geigenspiel. Foto: Hans Kumpf

Alice Coltrane hat, insbesondere für „Universal Conciousness“, dessen ungewöhnlicher Streicherklang von Ornette Coleman arrangiert wurde, mit Geigern zusammengearbeitet. Über einen von ihnen schrieb Joachim Ernst Berendt in seinem Jazzbuch knapp und treffend: „Die hervorragende und viel zu wenig gewürdigte violinistische Stimme des Freien Jazz ist Leroy Jenkins mit seinen clusterhaften, ,gehämmerten’ Geigensounds von manischer Getriebenheit. Jenkins verwendet die Geige als Perkussionsinstrument und Klangerzeuger, ohne Rücksicht auf violinistische oder harmonische Überlieferungen.“ Der zweite Satz des Zitats ist korrekt, greift aber etwas zu kurz. Jenkins beanspruchte durchaus auch die Freiheit, bei Bedarf auf Traditionelles, sei es Blues-Fiddle oder klassischer Schönklang, zurückzugreifen. Im ersten Satz sind auch nach über drei Jahrzehnten die Worte „viel zu wenig gewürdigt“ zu unterstreichen. Obwohl der am 23. Februar in New York verstorbene Jenkins (abgesehen von Ornette Coleman mit seiner noch unorthodoxeren Geigenspielweise) der bekannteste Geiger und Bratscher des Free Jazz war, möchte das Wort „bekannt“ im Zusammenhang mit ihm nicht so recht über die Lippen. Zeitlebens war er eine Undergroundler, eine Kultfigur weniger Insider. Selbst alte Jazzhasen kannten ihn wohl eher etwa aus Platten mit Archie Shepp (entstanden in der Zeit des Pariser Exodus vieler Avantgardemusiker um 1969) als aus eigenen Werken, etwa mit dem Revolutionary Ensemble.

Am 11. März 1932 in Chikago geboren, begann er mit sieben Jahren Geige zu spielen und spielte regelmäßig in der Kirche. Auf dem Klavier wurde er dabei von Ruth Jones begleitet, die später als Dinah Washington weltberühmt wurde. An der DuSable HighSchool und an der A&M University Florida wurde er zum Musiker ausgebildet. Obwohl er sich zeitweise auch als von Charlie Parker geprägter Altist versuchte, entschied er sich für die Violine. In den 60er-Jahren arbeitete er als Violin- und Musiklehrer in Alabama und Chikago, wo er sich 1964 der AACM anschloß. Als sich einige Chikagoer Jazz-Revoluzzern 1969 in Paris niederließen, gründete er dort mit dem Saxophonisten Anthony Braxton, dem Trompeter Leo Smith und dem Drummer Steve McCall die Creative Construction Company. 1970 zog er nach New York, lebte bei Coleman und übte drei Monate mit ihm. Wichtige Weggefährten jener Zeit waren auch Cecil Taylor und Anthony Braxton, doch auch mit Albert Ayler, Roland Kirk und Alice Coltrane kam es zur Zusammenarbeit.

1971 gründete Leory Jenkins mit dem Bassisten Sirone und dem Drummer Jerome Cooper das Revolutionary Ensemble, das 1972 ein Album für ESP aufnahm, das nur „Revolutionary Ensemble“ heißt, aber wegen des aufgenommenen Stückes auch als „Vietnam“ bekannt ist. Es ist sein Protest gegen jenen unseligen Krieg aus dem viele seiner Freunde gebrochen, ja wahnsinnig zurückgekehrt waren.
Bis 1977 bestand dieses Trio. Sein neues Trio (mit dem Pianisten Anthony Davis und Perskussionisten Andrew Cyrille) spielte, um George Lewis (tb) beziehungsweise Richard Teitelbaum (Moog, Electronics) erweitert, das 1978 bei Tomato erschienene „Space Minds, New Worlds, Survival Of America“ ein, seinen ersten Vorstoß in elektronische Gefilde. In den 80ern verstärkte Jenkins seine kompositorische Tätigkeit und leitete die bluesige Band Sting.

Spätere Werke zeigten Jenkins in größerer Nähe zu moderner klassischer Musik; so komponierte er für das Kronos Quartet und die Brooklyn Philharmonic und suchte die Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Künste. So entstanden Kantaten, Ballette, Video-Opern. In den letzten Jahren bevorzugte er wieder kleinere Formationen, etwa das Trio Equal Interest mit der Pianistin Myra Melford und den Saxophonisten Joseph Jarman. 2004 gab es eine Reunion des Revolutionary Ensemble.

Als Original, für den Kommerzialität nicht einmal eine Versuchung darstellte, war er ein Exempel künstlerischer Kompromißlosigkeit. Als Musiker, der unbekümmert und unbelastet von akademischen Konventionen in einer Zeit großen Umbruchs in der Jazzgeschichte das Klangspektrum der Violine erweitert hat, gebührt Jenkins ein fester Platz in der Musikgeschichte.

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