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Eine sehr gute Freundin erzählte mir jüngst von der Wohnung einer ehemaligen Affäre. Von den Möbeln, der Musiksammlung und dem Bücherregal des Verflossenen, und dass in eben letztem nur „echte“ Literatur gestanden habe. Keinerlei Belletristik. Ausschließlich Klassiker. Wenn man es böse ausdrücken will: Angeberbücher. Nun ist es leider so, dass es in der letzten Folge dieser Kolumne um genau diese Angeberbücher ging, zwar mit dem Ergebnis, dass diese im Jazz bei weitem nicht so unfehlbar angesehen werden müssen, nicht jedoch ohne festzuhalten, dass eine gewisse Kanonisierung unumgänglich ist. Sprich: „Bitches Brew“ und „A Love Supreme“ sind nicht wegzudenken, wenn es um Jazz geht. Dennoch muss der Vollständigkeit halber hinzugefügt werden,
dass nicht nur die „Blechtrommeln“, sondern auch die „Kopfgeburten“ den
Jazz befruchten. Bei letzterem handelt es sich um ein Buch, das der Nobelpreisträger
Günter Grass Ende der 70er-Jahre schrieb, inspiriert von der Arbeit
mit Volker Schlöndorf, mit dem zusammen er das Drehbuch zur Verfilmung
seines Weltbestsellers „Die Blechtrommel“ schrieb. In einer
Mischung aus Sachbuch und fiktiven Roman schickt Grass ein Lehrerehepaar
auf Reisen und lässt sie diskutieren, ob sie nun ein Kind in die
Welt setzen wollen oder nicht. Und genau diese Kopfgeburten sind es, die ein Plattenregal veredeln. Geheimtipps könnte man sie auch nennen, wobei das den persönlichen Wert, den das Buch haben kann, ein wenig unter den Teppich kehrt. Auf meinem Jazzregalbrett ist eine dieser Kopfgeburten das Album „Midnight Blue“ von Kenny Burrell. Zum ersten Mal gehört habe ich das Album vor ungefähr zehn Jahren in meiner damaligen Stammkneipe, und auch da fiel es mir nur auf, weil es so unaufdringlich ist. Westcoastgitarrenjazz trifft Latinpercussion (Ray Barretto an den Congas), all das in einem zwar gefälligen, aber noch lange nicht glatten Sound abgemischt – immerhin erschien das Album 1961 und damit doch um einiges vor der Ära der Weichspülsounds. Und darüber hinaus mit Stanley Turrentine am Saxophon. Wie eben die Kopfgeburten mit ihren 174 Seiten ist „Midnight Blue“ damit ein guter Einstieg in eine Welt, die von Blechtrommeln mit 731 Seiten dominiert wird. Ein zugängliches Album, sehr bluesig, teilweise balladesk, und dabei durchweg groovig. Ähnlich verhält es sich mit einem Album der Münchner Gebrüder Scales, „Grounded“, aus dem Jahr 2000.Dort vermischen die Brüder zusammen mit Roberto DiGioia, Johannes Enders, Adrian Mears und Sängerin Sabina Sciubba all ihre Einflüsse zu einer Neudefinition des Begriffs „Fusion“. Großartiges Pop-Songwriting wie in „Flow“, ein rockig-funkiges Intro mit „Take It There“, immer als Sahnehäubchen die phatte Posaune von Mears und dazwischen das energetische Gitarrespiel von Martin Scales – ein Album, dass einen Menschen absolut begeistern kann. Wenn man selbst Musiker ist, gleich doppelt. Wobei ganz ehrlich angeführt werden muss: Bei mir persönlich wurde der Jazz eingeläutet durch das Köln Concert. Und damit eben durch DIE Blechtrommel schlechthin. Das ist aber auch in Ordnung, schließlich habe ich mir die Kopfgeburten auch ziemlich schnell zu Gemüte geführt. Ob ich das nur gemacht habe, weil ich mein Regal nicht zum Angeberregal machen wollte weiß ich nicht. Ich glaube es aber nicht. Günter Grass hat die Kopfgeburten ja sicherlich auch nicht nur geschrieben, um nicht als Angeberautor dazustehen. Sebastian Klug |
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