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Freiheit ist eine ambivalente Orientierung. Im Blick zum absoluten Ideal stellt sich die Frage: Freiheit, wovon? So wie Ornette Coleman ab 1960 mit dem Album „Free Jazz“, denn sein Doppelquartett improvisierte quasi in einem ahistorischen Zustand, in dem Tradition als unerwünschter Ballast abgeschüttelt war. Das Jetzt der Musik sollte sich in der Folge dieses Freiheitsimpulses wie aus dem Nichts permanent selbst erfinden. Die Tür zur Vergangenheit blieb (vorerst) zu. Anders fragten Kenny Clarke und Francy Boland, als sie 1961 ihre Big Band gründeten, nämlich: Freiheit, wozu? Beide wollten die Tradition des Jazz zukunftsfähig revidieren. Ein relatives Ideal, das die Tür zur Vergangenheit offen hielt. Trotzdem war der Klang der Clarke/Boland Big Band (CBBB) progressiv, indem Standards nun „All Smiles“, als ob sie sich über Freiheiten in neuen Arrangements freuten. Programmatisch deshalb „Let’s face the Music and Dance“, eine Melodie von Irving Berlin, die durch kontrapunktischen Satz und rhythmische Akzentverschiebungen zum Ballett stilisiert wird. Ziemlich verrückt dreht sich „By Strauss“ von George Gershwin im Dreiermetrum, sodass man hörend schwindelig wird. Andere Freiheiten zeigen sich mit „More Smiles“, wenn der alte deutsche Schlager „Bei dir war es immer so schön“ durch Dehnungen und Verlangsamungen gar symphonisch verfremdet wird. Wahrscheinlich würde Richard Rodgers nicht mehr „My Favorite Things“ sagen, weil durch Umstellung der Motive die ursprüngliche Melodie nur noch als Fragment wahrnehmbar ist. Solche Methoden der Materialorganisation hat Francy Boland, der exklusive Arrangeur der CBBB, perfektioniert. Der 1929 in Belgien geborene Pianist arbeitete zunächst für den Rundfunk und die Kurt Edelhagen Big Band. Fürs Profil der CBBB übersetzte er klassische Satztechniken in die Jazzgrammatik der Improvisation zu einem unverwechselbaren Stil, der oft mit der Arbeitsweise von Duke Ellington verglichen wurde. Obwohl die CBBB mit siebzehn Stars aus acht Nationen, die meisten davon Ex patria US-Amerikaner, eine prekäre internationale Formation war, blieb sie elf Jahre stabil, ein bedeutendes Kapitel europäischer Jazzgeschichte. Das Geheimnis war Toleranz der je eigenen Individualität: „Es war verblüffend“, meinte Saxophonist Johnny Griffin. „Ich kannte die meisten Musiker, bevor sie sich der Band anschlossen, und es war eine unglaubliche Erfahrung diese ganzen Egomonster dort sitzen und so gut zusammenarbeiten zu sehen. Was ich jedoch schnell erkannte, war die Tatsache, dass sie alle sehr viel Respekt für Kenny Clarke empfanden. Er war, was man vielleicht den ‚außergewöhnlich größten gemeinsamen Nenner‘ bezeichnen könnte.“ Francy Boland hat stets in enger Kooperation mit Schlagzeuger Kenny Clarke, der 1914 in Pittsburg (USA) geboren ist, 1956 nach Frankreich umsiedelte und 1985 in Paris gestorben ist, das Repertoire der CBBB entwickelt. Kenny „Klook“ Clarke‘s im Bebop gewachsener Swing bildete, im symbiotischen Duo mit dem britischen Drummer Kenny Clare, das Rückgrat der CBBB. Sein gerader Stil integrierte die weit geschwungenen Bögen der chromatischen Skalen in der Sax-Section, wie sie in Dandy Manier auf die „Villa Radiueuse“ in der Suite „Fellini 712“ zugeht. Diese Komposition von Francy Boland ist eine Hommage an den Grandseigneur des italienischen Films und an die citta aperta Rom. Die Musik ist so quirlig wie die Ewige Stadt, die Sets springen über markante Zäsuren, ohne die verbindenden Motive zu verlieren. Das Call & Response Prinzip ist hier zu artifizieller Dichte gepresst, sodass die Klangfarben in grellen Minzakkorden pulsieren. Dennoch hat diese Musik eine kühle Intellektualität, eine existenzialistische Freiheit der Form, die sich in den individuellen Soli manifestiert. Die drei exzellenten Wiederveröffentlichungen aus dem MPS-Archiv erinnern an die CBBB als erstes Ensemble der europäischen Jazzszene, in dem Tradition und Avantgarde eine gemeinsame Zukunft hatten. Hans-Dieter Grünefeld
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