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Durch die Geschichte des neueren Jazz zieht sich ein Gegensatz, den am drastischsten vielleicht Nietzsche benannt hat: der nämlich von Miniatur und großer Erzählung. Natürlich hat Nietzsche nicht über Jazz geschrieben, sondern obsessiv, immer wieder über Richard Wagner. Aber das, was er über Wagner sagt, charakterisiert auch die Entwicklung von Gil Evans und Miles Davis zu John Zorn und Marc Ribot – um nur mit ein paar Namen die Richtung und das Problem anzudeuten. Hören wir Nietzsche, dem großen Freund und dem großen Feind, der aber immer vor allem eins war: präzise, unerbittlich und unbestechlich, einen Augenblick lang zu. Schauen wir in den „Fall Wagner“ (ja, er hat eine Akte angelegt; er ist Detektiv und Scharfrichter, manchmal freilich auch Anwalt in einem) aus seinem letzten bewussten Lebensjahr 1888. Dort nennt er ihn „unsern größten Miniaturisten der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt“. Er rühmt ihn als Virtuosen der „kleine(n) Kostbarkeiten“, als (und hier wird es schon zweideutig) „Magnétiseur“ und „Affresco-Maler“, er wünscht sich ein „Lexikon der intimsten Worte Wagner’s“, „lauter kurze Sachen von fünf bis fünfzehn Takten“. Und dann beginnt er zu schimpfen: „Der Rest taugt nichts.“ Und: „Wie armselig, wie verlegen, wie laienhaft ist seine Art zu ‚entwickeln‘“. Er denunziert Wagner als Nicht-Musiker, als einen, der vor allem auf Effekte aus ist, auf Überwältigung seines Publikums, der die große Show, die Performance sucht, der Schauspieler sein will, von allen gesehen und gefeiert. Und, was damit zusammenhängt, aber noch schlimmer ist: Als Miniaturist sagt Wagner die Wahrheit, geht in die Tiefen der Existenz, berührt jeden dort, wo er noch nie berührt wurde. Als Dramatiker aber, als Heroe der Groß-Form, die er erfunden hat, als Gesamtkunstwerker ist Wagner vor allem eins: ein Lügner und Verführer, ein Mann der Drogen und des Rauschs, ein Händler mit „Hallucinationen“, vor allem, bei Nietzsche das ultimate Verdammungsurteil: ein „Décadent“. Erzählt Nietzsche hier nicht, en passant, auch die Geschichte des Jazz, seiner Größe und seines Elends, seiner Selbst-Missverständnisse und trügerischen Ambitionen? Wurde Jazz nicht immer zum „Ritt über den Bodensee“, zu einer brüchigen, abgründigen, gewollt-grandiosen Sache, wenn der Ehrgeiz, der große Plan über Authentizität und Erfahrung triumphierten? Ist Jazz nicht eher ein jäher Aufschrei (der Lust, der Freude, des Schmerzes, auch der Rebellion) und nicht ein längeres Gedankenspiel. Der Jazz war, in seinem Ursprung, in seiner sozialen Praxis über viele, viele Jahrzehnte vor allem eins: „race music“, Sache der outcasts, derjenigen, die in den Gesetzen und im Glück der „guten Gesellschaft“ nicht vorkommen (dürfen). Ist der Jazz der großen Konzerthallen, der sauberen Töne, der geprüften Editionen nicht eine Perversion, eine Kapitulation? Wenn ja, dann beginnt sie aber nicht erst mit Wynton Marsalis, der die „race music“ zum europäischen Kulturerbe mutieren möchte; der so streng und arbeitsam und geltungssüchtig ist wie ein Calvinist der ersten Stunde, der seine Erwähltheit in Erfolg, Anerkennung und Untadeligkeit sucht und von Schmutz und Sünde, Versagen und Verzweiflung nichts mehr wissen möchte. Nein, der Erbsünder ist nicht Wynton Marsalis. Die große trügerische Erzählung, die etwas anderes (bedeuten) will als man selbst ist, beginnt bei den unbezweifelbaren Darlings, den Duke Ellingtons oder Gil Evans. Der Verrat (oder die „Hallucination“) trägt die Maske des Konzepts: große Linien, Geschichten, die unbedingt erzählt werden müssen; die von irgendwoher kommen und irgendwohin führen. Das war übrigens nicht nur der Abweg der Jazzer, sondern auch der Rock-Rebellion. Gerade die Bekenner der wüstesten „riots“, die „My-my-my Generation“-Stotterer rund um Pete Townshends „Who“ oder die „working class heros“ aus den alten Londoner Arbeiter-Vierteln rund um Ray Davies‘ „Kinks“ schrieben mit einem Mal Opern („Tommy“, „Arthur“), wurden zu pathetischen Chronisten und vergaßen darüber, dass man als Außenseiter nicht über die lange Distanz bei der Wahrheit bleiben kann. Die Verführung des Jazz waren immer: das große Orchester, der große Auftrag (nicht selten von der Traumfabrik und Halluzinationsmaschine Kino), auch das große Budget, die reichlich bemessene Zeit. Wenn selbst ein Duke Ellington, ein Gil Evans, ein Miles Davis (von den anderen, die „wir“ nicht so mögen, ganz zu schweigen) in die Irre gehen, heißt das dann, dass die Miniaturisten, die Zauberer der kleinen und kleinsten Formen immer recht haben. Die „Residents“, selbst gesichtslose Para-Jazzer, hatten es vorgemacht: Vierzig Songs oder Tracks, die nur eines gemeinsam haben, die präzise Länge von einer Minute – und dann schauen, was passiert. Und so hinterfotzig sein, das Produkt „Commercial Album“ zu nennen, um anzudeuten, wohin der Hase läuft - oder eben nicht. John Zorn hat diese Zitronenpressen-Ästhetik zur absoluten Meisterschaft geführt. Sein Prinzip hieß: konsequenteste Reduktion und Abstraktion. Er war der Maestro der Jazz-Postmoderne, der alles zur Verfügung stand: „pomp and circumstances“, jeder Kitsch und jede Süße aus jedem Genre. Bei Zorn kam es in die Mangel. Er schaute, wieviel Essenz in allem steckt. Und er zeigte – man kann nicht so genau sagen, ob dies seine Absicht war –, wie ähnlich sich die Dinge (die Musiken!) plötzlich sehen, wenn man auf alles Überflüssige verzichtet. Die Lehre, die man aus einer Wanderung durch den John-Zorn-Kosmos ziehen kann: der Reichtum der Welt, das sind die Dinge, für die man sich schämen muss. Helmut Hein |
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