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Seit Jahren wandert er über ein Hochplateau musikalischer Reife. In seiner Musik findet sich beides: meditative Konzentration und ekstatische Verausgabung. Charles Lloyd singt auf seinem Saxophon, und er erzählt Geschichten, die sich mit einem an Erfahrungen reichen Leben verknüpfen.
„All My Relations“ heißt eines seiner Alben, mit dem er weitgespannte Verwandtschaftsgeflechte ausleuchtet. Ebenso wichtig wie seine eigenen Vorfahren, zu denen Afrikaner, Cherokee-Indianer, Mongolen und Iren zählten, sind für Charles Lloyd die musikalischen Wahlverwandten, die Blues-Barden, die Folk-Sänger und die großen Saxophonisten des Jazz – von Ben Webster, Coleman Hawkins und Lester Young bis zu John Coltrane. Auch jene, die Charles Lloyd spirituelle Wege gewiesen haben, Weise aus Asien und afroamerikanische Priester, zählen dazu. Aus den Schichten des kulturellen Gedächtnisses und aus aktuellem Erbe gestaltet er einen großen Gesang. Bezeichnend tragen seine Alben Titel wie „Canto“, „Voice In The Night“ oder „Lift Every Voice“. Erinnerung und Vergegenwärtigung. Zeitgefühl und Aufheben der Zeit. Rückblick auf den Künstler als junger Mann. Geboren und aufgewachsen in Memphis, Tennessee, spielte Charles Lloyd früh mit Rhythm&Blues-Bands, auch mit Blues-Legenden wie Howlin’ Wolf und B.B. King und Bobby „Blue“ Blend. Mitte der sechziger Jahre ging er als Musikstudent nach Kalifornien; Anfang der sechziger Jahre kam er nach New York, wo er in der Band von Chico Hamilton Nachfolger von Eric Dolphy wurde und auch im Sextett um Cannonball Adderley spielte. 1966 entstand dann jene Gruppe, mit der Charles Lloyd weltberühmt wurde: ein Quartett mit dem Pianisten Keith Jarrett, Cecil McBee bzw. Ron McClure am Bass und Jack DeJohnette am Schlagzeug. Der Rest ist Musikgeschichte. Charles Lloyd gelang es, mit seiner Musik ein Publikum auf seine Seite zu ziehen, das so zahlreich war wie die riesigen Rockgemeinden. Sein Quartett spielte als erste Jazzgruppe in Rock-Tempeln wie dem Fillmore West in San Francisco, oft in einer Programmfolge mit Musikern und Bands wie Jimi Hendrix, Grateful Dead, Janis Joplin und Jefferson Airplane. Mit seinem Quartett trat Charles Lloyd in mehr als vierzig Ländern der Welt auf, trotz des Kalten Krieges auch in der Sowjetunion. Allein vom Album „Forest Flower“, ein Live-Mitschnitt des Charles Lloyd Quartet beim Monterey Jazz Festival 1966, wurden weltweit mehr als eine Million Exemplare verkauft. „Der Traum von Forest Flower ist lebendig geblieben“, meditiert Charles Lloyd im Halbdunkel eines Münchner Hotelzimmers. Und er rezitiert den „Forest Flower“-Text wie ein Mantra. Die Träume, die Hoffnungen und die Aufbruchstimmungen der sechziger Jahre, meint Charles Lloyd, haben sich nicht verflüchtigt, sondern sind sublimiert worden. Er selbst lebt es: Abkehr vom Ego, Unabhängigkeit vom Überfluss materieller Güter, Einkehr, Konzentration auf das Wesentliche. Ein Gespräch mit Charles Lloyd gleicht einer Lektion in Selbstbescheidenheit und Einsicht, unterbrochen von herzlichem, die Ernsthaftigkeit auflockerndem Lachen. „Wenn du in dem relativen Gefüge, das wir Zeit nennen“, so Charles Lloyd, „ganz im Jetzt lebst, bist du hellwach. Du atmest und merkst, es gibt keine Zeit. Da ist nur der Klang und der Tanz. Alles in meiner Musik dreht sich – metaphorisch gesprochen – um die Verknüpfung von Sound, Dance und Time.“ Das kann sich in hymnischen Melodielinien auf dem Tenorsaxophon äußern, in leicht hingehauchten Flötenklängen oder in beschwörenden Formeln auf der tibetanischen Oboe. Charles Lloyd, der noch immer den wegweisenden Saxophonisten des Jazz und den Gurus auf dem Weg zum Selbst seine Reverenz erweist und der doch längst seine eigene Stimme gefunden hat, weiß wie flüchtig und relativ äußerer Erfolg zu bewerten ist. Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes hatte sich Charles Lloyd für Jahre, fast für zwei Jahrzehnte, von der Geschäftigkeit des Musikgeschehens verabschiedet und auf eine Farm in Kalifornien zurückgezogen. Er ging lieber in den Wäldern mit kleinen Flöteninstrumenten spazieren als sich dem Druck des Konzertbetriebs auszusetzen. Der damals 17-jährige Michel Petrucciani hat ihn in dieser Phase besucht und mit seiner Musik im Innersten berührt. Charles Lloyd spürte wohl, dass dem kleinwüchsigen Pianisten kein langes Leben beschieden sein würde. Jedenfalls drängte es ihn, mit Petrucciani zu spielen und dann auch wieder öffentlich aufzutreten. So begann Anfang der 80-er Lloyds lang anhaltendes Comeback. „Ich weiß jetzt“, bekennt der am 15. März dieses Jahres 65 Jahre alt werdende „Junior Elder“, wie er sich selbst bezeichnet, „dass ich immer spielen werde. Ursprünglich wollte ich singen. Doch da ich kein Vertrauen in meine Stimme entwickelte, griff ich zum Saxophon. Und mit diesem vermag ich jetzt auf eine Weise zu singen, von der ich nicht mehr lassen will.“ Alles, auch das, worüber sich nicht sprechen lasse, so Charles Lloyd, teile sich in den feinsten Ausdifferenzierungen des Sounds mit – wie ein Fingerabdruck, ein Mikrochip, ein genetischer Code. Sound als Stimme und als instrumentaler Klang. Wäre er in Europa aufgewachsen, hätte er sich vielleicht auf das Cello konzentriert. Und er könne sich gut vorstellen, mit einem Cellisten oder einer Cellistin zusammenzuarbeiten. Die Musik von Charles Lloyd abstrahiert den Blues, assimiliert Spirituals und transzendiert selbst den Jazz. Dennoch lebt sie von Erinnerungen: Mit dem Gitarristen John Abercrombie arbeitet der Saxophonist auch deswegen so gern zusammen, weil er dessen Spiel mit einer früheren Gruppe, zu der der Ungar Gábor Szabo zählte, und mit einem „sehr vagen, sehr freien Gypsy-Feeling“ assoziiere. Mit dem 2001 verstorbenen Schlagzeuger Billy Higgins verband Charles Lloyd eine Freundschaft seit den Jugendjahren, als sie sich mit Musikern wie Ornette Coleman, Scott La Faro und Eric Dolphy zu Sessions trafen. Rund vierzig Jahre später holte Lloyd den Drummer in seine Band. Für den schwer erkrankten Higgins hat Charles Lloyd Benefizkonzerte gegeben und musikalische Widmungen eingespielt. Das letzte Album, auf dem die beiden gemeinsam zu hören sind, nannte er „Hyperion With Higgins“. So wie einst Billy Higgins breitet nun Billy Hart einen Teppich aus, auf dem die Musiker gemeinsam tanzen können. Charles Lloyd hat beides erfahren: von einer großen Fangemeinde umjubelt und von einem kleinen Kreis getragen zu werden. Diejenigen, die er musikalisch ansprechen will, nennt er „my people“, Stämme in den ausufernden Metropolen der Gegenwart. Mit der sanften, gleichwohl durchdringenden Stimme seines Tenorsaxophons vermag er viele von ihnen zu erreichen, auch wenn der Traum von Mehrheiten mittlerweile anderen Sichtweisen Platz gemacht hat. „Ob du es glaubst oder nicht,“ spricht Charles Lloyd mit halb geschlossenen Augen in den Raum, „ich möchte meine Musik so einfach wie möglich gestalten, pure, simple and full of love.“ Bert Noglik Mit freundlicher Genehmigung von Triangel Radio-Tipp
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