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Michael Naura, geboren 1934 in Klaipeda. Muttersprache Litauisch, kam 1940 nach Deutschland. Er studierte Soziologie und Philosophie an der FU Berlin und an der Meisterschule für Graphik und Buchgewerbe. Klavierspiel autodidaktisch. Naura arbeitet seit 1953 mit dem Vibraphonisten Wolfgang Schlüter in unterschiedlichen Jazz-Ensembles zusammen. Seit 1966 Zusammenarbeit mit dem Dichter Peter Rühmkorf (Jazz+Lyrik). Seit 1971 ist Naura Leiter der Jazzredaktion des NDR. Jetzt legte er mit „Cadenza” wieder ein Buch unter eigenem Namen vor. Es ist eine Sammlung von Porträts, bissigen Kommentaren, fantastischen Essays und Grafiken. Andreas Kolb: Erzählen Sie unseren Lesern etwas über die Entstehung von „Cadenza“? Michael Naura: Die Absicht war ein Buch zu machen, das mich selbst nicht langweilt. Ein Fachbuch zu machen, wie irgendeine Anglerzeitschrift – obwohl ich selbst gerne angle – das war nicht meine Absicht. Ich dachte mir, es gibt noch ein Leben außerhalb des Jazz, allerdings ein Leben, in das der Jazz ständig hineinflackert, seine Protuberanzen abschießt. Das war alles. Dann muss ich sagen, dass ich seit langem schon ganz in der Nähe der Literatur bin. Meinem Freund Peter Rühmkorf etwa bin ich auf das Innigste verbunden. Die Literatur war immer ein gewaltiger Sog, dem konnte ich mich gar nicht entziehen. Kolb: Sie kommen ursprünglich aus Litauen, sprachen früher Russisch und Litauisch und haben die großen russischen Schriftsteller im Original gelesen – woher kommt ihre Sprachgewalt im Deutschen? Naura: Das hängt damit zusammen, dass ich vom Schreiberischen fasziniert bin, fast noch mehr als von der Musik, die ganz Großen ausgeschlossen, Händel und Charlie Parker. Kolb: Das Wort ist für Sie die Tat und nicht die Musik? Naura: Im nächsten Jahr werde ich siebzig. Gewisse verrückte Zeiten sind vorbei: Als wir acht Stunden nachts spielten, da spielte das Schreiben für mich noch keine Rolle. Es war wie ein Zeitzünder in mir eingebaut. Aber als ich mich mehr oder weniger von der Musik verabschiedet habe, da sagte ich: „Ah, Mütterchen Literatur!“ Das ist ein großes Liebesverhältnis. Kolb: Sie sind eine Multibegabung. Studium der Philosophie und Soziologie, Studium Grafik/Buchgewerbe, alles abgebrochen... Wie wird man als abgebrochener Student Leiter der NDR-Jazz-Redaktion? Naura: Nachdem ich die Studien abgebrochen hatte, rettete ich meinem Freund Wolfgang Schlüter, der sein Schlagzeugstudium in Berlin gerade beendet hatte, vor einem schrecklichen Schicksal. Er war gerade dabei in einem Orchestergraben irgendwo auf einer Insel hinter England zu verschwinden. Da sagte ich: „Bist du wahnsinnig? Du wirst doch verfaulen, Mann! Lass uns erst Mal Jazz spielen, später kannst Du immer noch diese Scheißjobs da antreten.“ Und so begann eine gewisse Reise Arm in Arm, das war in den 60-er Jahren. Wir hatten Glück: Die Redakteure des amerikanischen Soldatensenders AFN, American Forces Network hörten uns in einem Club. So kamen wir zu einer wöchentlichen Live-Sendung in ihrem Funkhaus, einer Villa in Dahlem. Im Jazz-ausgehungerten Berlin hörten uns auch viele aus Westdeutschland. Wir wurden in Hamburg ins Barett angeheuert, es war so eine altmodische Knutschbar mit chambres séparées und so weiter. Wir spielten da und eines Tages saß eine relativ junge Frau an der Bar allein. Ich dachte: „Was hat das zu bedeuten?“ Sie schickte uns eine Lage nach der anderen. Und siehe es geschah, dass dies die schwedische Sängerin Alice Babs war, die beim NDR Aufnahmen machte. Sie hatte sich nachts immer gelangweilt, kam dann immer hin zu uns, und hat dann im NDR erzählt, also da sind ein paar Jungs aus Berlin, die sind gut drauf. Da kamen Leute vom NDR, und wir machten viele Aufnahmen dort, bis eines Tages der große Henry Regnier, der Bruder des Schauspielers Regnier, sagte: „Micki, kommen Sie zu uns“. Ich spürte: „Du kannst nicht dein Leben lang in irgendwelchen Kneipen am Rande des Alkohols immer herumplätschern!“ Ich wurde als Producer angestellt, der alle möglichen Sachen produziert, auch Schlagersänger. Eine interessante Tätigkeit, die gut bezahlt war. Dann starb mein Vorgänger, Hans Gert Berg sehr plötzlich und ich rückte auf die Stelle. Das war ein wunderbarer Job: Damals waren die Rundfunkzeiten andere, da gab es nicht diese mörderische Schallplattenindustrie, sondern die Rundfunkstationen haben ihre eigene Musik produziert, es war paradiesisch. Kolb: In Ihren Essays porträtieren Sie große Jazzer – hauptsächlich Amerikaner... Naura: Als Jazzmusiker wurde ich geprägt von George Shearing,
Dave Brubeck und anderen Amerikanern. Viel später lernte ich Leute
kennen wie Michel Portal, den ich über alles liebe, und andere Leute,
wie etwa Dino Saluzzi. Kolb: Leider gibt es aber diesen Enthusiasmus beim Jazz nicht mehr. Entweder ist Jazz Musik für Kenner, oder es ist kommerziell. Naura: Ich gehöre einfach noch zu der Generation, die noch unterm Dritten Reich gelebt hat und dann Jazz wie eine Erleuchtung empfunden hat. Was das Goebbels-Radio uns da angeboten hat mit Marika Röck, das war´s ja nun auch nicht. Deshalb ist das für mich das Grab. Kolb: In „Cadenza“ finden sich einige unbekannte Grafiken von Ihnen... Naura: Das Buch ist in erster Linie – nicht in allem – Entertainment
und Satire auf etwas höherem Niveau. Dass ich auch Zeichner bin,
hängt mit dem Krieg zusammen. Als die Amerikaner Berlin besetzten,
da haben sie das erste Amerikahaus in Berlin aufgemacht. Ich ging da hin
und sah eine Riesenabteilung mit Büchern, mit Grafiken. Einer der
Ersten, der mich wirklich erst aus den Schuhen gehoben hat, das war Saul
Steinberg. Da fing meine Abhängigkeit von erstklassigen Grafiken
an. Ich begann dann auch zu sammeln. Kolb: Das ist aber längst nicht alles? Naura: Ich schreibe jetzt Hörspiele. Das erste heißt „Der lange Sturz“, das ist beim NDR aufgeführt, uraufgeführt auf der Leipziger Buchmesse, und jetzt als Hörbuch bei Hoffmann & Campe erschienen. Zu meiner Überraschung war dieser Erstling gleich ein Riesenerfolg. Und nun bin ich gerade dabei, das zweite zu beenden. Es heißt „Billy“. Billy Holiday ist zwar die Hauptfigur, aber es ist trotzdem nicht ihre Geschichte. Ich schenke ihr ein zweites Leben, noch viel abgedrehter. Meine Billie Holiday ist gleichzeitig Schriftstellerin, schreibt Gedichte. Das dritte Hörspiel wird über die Neonazis in Deutschland sein und zwar wieder am Beispiel des Jazz. „Ellingtons Reise“ wird es heißen. Ellington fährt mit seinem besoffenen Saxophonisten durch das Deutschland unserer Tage. Was den beiden Farbigen da so widerfährt, darum geht es in diesem Hörspiel. Kolb: Sie waren auch politisch aktiv, Sie sind Vorstandsmitglied von „Künstler für den Frieden“? Naura: Ja, das ist aber jetzt verblasst. Kolb: Dass der Impuls aus der Friedensbewegung raus ist, ist eine
Analogie zum Jazz, wo es zwar eine Menge sehr aktiver Musiker gibt, aber
nichts mehr von dieser generationenübergreifenden Besessenheit. Kolb: Was kann man denn, etwa beim NDR, ganz konkret für den Jazz tun? Naura: Nicht nur beim NDR, sondern überall in großen Radiostationen sind die ganz wichtigen Positionen von mehr oder weniger musikfremden Persönlichkeiten besetzt. Die kommen aus der Politik und so weiter, und die haben natürlich nicht die Begeisterung, die Hitze und die Wut wie ich. Es gibt ja so ein Gespenst, das man anbetet, vor dem man kniet, das ist die Einschaltquote. Ich denke, ganz große Sender müssten die Kraft und auch den Stolz haben, manchmal die Einschaltquote auch zu verachten. Kolb: Michael Naura, Peter Rühmkorf, Wolfgang Schlüter – eine wichtige Dreierkonstellation im deutschen Jazz. Wie fing das an? Naura: Mitte der 60-er Jahre in einer heißen Sommernacht auf dem Rathausplatz in Hamburg fand eine Studentendemonstration statt. Wir standen auf einem Lastwagen mit einem Klavier drauf, und Rühmkorf hat seine frühen Gedichte gelesen, die sind ja politisch noch viel glühender. Wir hatten nicht viel Zeit zu proben und haben das in Musik gekleidet. Erst viel später haben wir dann richtig geprobt, und ich habe Stücke für ihn geschrieben. Der Rühmkorf ist ein unglaublicher Jazzfan. Kolb: Wie kommt denn der Jazz zur Lyrik – und vice versa. Empfinden Sie sich als Rühmkorfs Begleiter? Naura: Bei uns dreien gab es keine Hierarchie. Das fand ich an
Rühmkorf enorm. Er ist für mich eine geistige Instanz. Er hat
einfach Größe, er macht nicht so ein billiges Ding –
ich hier oben, und ihr da unten. Zuerst war das Wort. Und dann wedelt
er so ein bisschen mit seinen langen Fingern vor sich hin, und dann sage
ich am Flügel: „Pass mal auf, wie ist es denn damit?“
Wir haben uns da rangetastet. Ich stand bei ihm fast unter Kompositionshypnose.
Er hatte wirklich eine enorme Ausstrahlung. Kolb: Jazz als eine Musik mit Unterleib, das ist das, worauf Sie
stets mehr Wert gelegt haben, als auf das Skalen lernen und Etüden-Bimsen.
Buchtipp
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