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Das Kind ist 18, damit volljährig und kann auf eigenen Füssen stehen. Sein Vater wird 65 und entlässt sein Kind eigenverantwortlich ins Leben. Gemeint ist der DML (Diplommusiklehrer)-Studiengang „Jazz und jazzverwandte Musik“. Sein Vater – Dieter Glawischnig.
Wer die Biografie des Künstlers, Dirigenten, Dozenten und Wissenschaftlers Glawischnig betrachtet, kann sich nicht vorstellen, dass es im Leben des in Graz geborenen jemals etwas anderes gab, als Jazz. Ihm selbst war dies lange Jahre nicht bewusst. Als kleiner Junge wollte er Lokomotivführer werden, sah sich als Fadenbediener eines Kasperletheaters und powerte seine Energien mit Weitsprung und rasanten Wettläufen aus. Die Musik ist eher schleichend in den Vordergrund gerückt: „Ich wusste ja nicht, dass man so was beruflich machen kann!“ Mit fünf Jahren griff er bereits beherzt ins Akkordeon, ein Jahr später folgte dann – nach einem kurzen Geigenintermezzo – das Klavier, bis heute sein liebstes und wichtigstes Instrument. Damit nicht genug, begann er mit 13 Trompete zu spielen. Auslöser war der Film „Die badende Venus“ mit der bezaubernden Ester Williams: „Da spielte das Harry James Orchester auf einem Schiff den Trumpet Blues. Alle im eleganten weißen Anzug. Das wollte ich auch!“ Sein großes Glück war – so Glawischnig – dass in Graz die Engländer stationiert waren. Sie brachten ein gewisses Jazzklima in die Stadt – und ihm schon früh die Beschäftigung mit dieser wunderbaren Musik. Seine erste Jazzplatte war 1947 das „Bostoner Konzert“ der Louis Armstrong Allstars: „Das war hinreissend! Da habe ich versucht, die Armstrongsoli nachzugigsen.“ Die Schlagerszene um ihn herum hat ihn kalt gelassen, den Beatleswahn der intellektuellen Grazer Künstler konnte er nicht teilen. Coltrane und Cecil Taylor waren halt viel spannender. Dieter Glawischnig ist ein Schöngeist. Ein Charismatiker, der leichtfüßig seine Liebe zur Musik den Menschen unterbreitet. Sein Lebensweg zeigt jedoch, dass sein Schaffen noch andere Motoren hat: eine starke Willenskraft, unerschöpfliche Energie und ein beständiges Schauen „über den Tellerrand“. Er studierte an der Universität in Graz Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie; an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Klavier, Theorie, Trompete, Posaune und Dirigieren. Es folgten Auslandsstudien in Nizza, Siena und in den USA (Boston, Chicago, New Orleans, New York). Hier knüpfte er Kontakte zu vielen Musikern seines späteren Schaffens. Neben unzähligen musikalischen Projekten arbeitete Glawischnig 1968/71 als Korrepetitor am Grazer Opernhaus, leitete 1968 bis 1975 die Jazzabteilung an der Grazer Musikhochschule. Durch seine musikwissenschaftliche Arbeit – er war 1969 Mitorganisator der 1. Internationalen jazzwissenschaftlichen Tagung in Graz – lernte er Hermann Rauhe und Wolfgang Kunert kennen. Letzterer holte ihn 1980 als Leiter der NDR-Bigband nach Hamburg. Glawischnig sieht sich weniger als Dirigent, denn als „primus inter pares“: „Kunert hat aus einem Tanzorchester eine ausgezeichnete Solistenband gemacht, die sich immer wieder für interessante Projekte einsetzt.“ Hermann Rauhe gewann Dieter Glawischnig 1982 als hauptamtlichen C4-Professor für die Hochschule. Zusammen mit der NDR-Bigband wurde 1985 schließlich der Fachbereich „Jazz und Popularmusik“ gebildet. Dieter Glawischnig brachte sein Zwei-Säulen-Modell aus Graz mit, das neben dem Jazz einen großen klassischen Anteil beinhaltet: „Wer auch Bach und Schönberg gespielt hat, der wird natürlich im Jazz gleich anders spielen.“ Das Unterrichten erlebt er als sehr anregend, bezeichnet es gar als Jugendfaktor. Das Modell hat sich bewährt. Die führenden Mitglieder der NDR-Bigband arbeiten als Teilzeitprofessoren, durch die Gastmusiker der Bigband kommen die Studenten immer wieder in den Genuss außergewöhnlicher Workshops. Hermann Rauhe sieht in dem Modell „...eine segensreiche Pioniertat, wohl mitausgelöst durch Glawischnigs eigene fächerübergreifende Ausbildung...“. Der Musiker Glawischnig schreibt mit seinen freien Improvisationen eine eigene Geschichte. Seine beiden erfolgreichen Trios Neighbours und Cercle zeigen, wie wichtig ihm ausgeprägte Motive und ein spannungsgeladener dramaturgischer Aufbau sind. Seine große Liebe zur Literatur offenbarte er spätestens 1982 mit seiner Komposition „Laut und Luise“ mit Texten von Ernst Jandl. In der Jazzmusik sieht er ein starkes Transportmittel für Inhalte, Botschaften. Glawischnig hat ein Lebenswerk geschaffen. Sein größtes Glück liegt in all seinen Tätigkeiten in der improvisierenden Arbeit mit gleichgesinnten Freunden: „Das ist ein großartiger Energiespeicher für alles, was man macht! – Und natürlich ist es irgendwie ganz gut, dass man mit seinem Hobby gute Kohle verdienen kann!“ Im März 2003 wird er die Hochschule als Leiter des Studiengangs verlassen. Über Hamburg sagt er: „Die Nordlichter? Die glänzen! Die glänzen genauso wie die Südlichter. Alle Kunstschaffenden tun das!“ Seinem Kind, dem Studiengang, wünscht er, dass die Idee der offenen Pädagogik ohne Verschulungszwang fortgeführt wird. Die Studenten müssen es freiwillig machen, sonst haben sie eh keine Chance – und abschließen sollen sie. Das pädagogische Zertifikat öffnet zusätzliche Türen. „Fürs spielen braucht’s kein Zettel. Im Orchester oder einer Jazzgruppe fragt keiner – haben sie ein Diplom?“ - und die Zeit nutzen, das Unterrichtsangebot anzunehmen. „Sie sollen in sich hineinstopfen, was möglich ist! Angebote anderer Fachbereiche sind manchmal tierisch befruchtend.“ Über den Tellerrand zu schauen ist nach wie vor sein Motto, einen erfüllten Lebensplan entwickeln zu können. Und er selbst? Er wird noch eine Weile die NDR-Bigband leiten – aber vor allem wird er nun das tun, was er seinen Studenten all die Jahre predigte: spielen, spielen, spielen. Dieter, wir freuen uns auf Deine Musik! Gabriele Benedix |
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