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In subtropischer Schwüle hat Cassandra Wilson ihr neues Album Belly Of The Sun aufgenommen: in Clarksdale am Mississippi-Delta. In der Region sind Jazz und Blues geboren, und die Jazzsängerin selbst auch, 1955 in Jackson, der Hauptstadt des Staates Mississippi. Cassandra Wilson ist also nicht nur aus Nostalgie in ihre Heimat gefahren, sie ist zum Ort der Entstehung afro-amerikanischer Musik überhaupt zurückgekehrt. Insofern ist ihre Heimkehr im Jahr 2001 ein Bekenntnis zur eigenen Tradition im doppelten Wortsinn: individuell und kulturell.
Nun, der Weg dorthin war durchaus eine Konsequenz ihrer bisherigen Arbeit. Denn Blues gehörte mit Beginn ihrer Karriere als Jazzsängerin in den 1980ern zum Stammrepertoire. Cassandra Wilson ist keine Revolutionärin, ihre Kunst entwickelt sich auf schwarzer Erde. Zunächst interpretierte sie mit ihrem samtenen Ton Standards von Rogers/Hammerstein oder Aretha Franklin. Zwei Albumtitel, Blue Light Til Dawn und Blue Skies, weisen auf eine Konstante ihrer Interessen dieser Zeit. Die Dämmerung, wenn das Licht noch nur Schemen erkennen lässt und vielleicht ein Kater den Kopf quält, ist eine ihrer bevorzugten Stimmung in den meisten Songs. Eigenwilliger ist das Design der Stücke, die sie mit Musikern der New Yorker Szene, dem Pianisten Mulgrew Miller und vor allem Steve Coleman, aufnahm: Modern Jazz, modale Stücke, mit viel Raum für Improvisation. Selbst komponierte Cassandra Wilson auch in diesem Stil. Ihre Stimme war dann heller und beweglicher in den Registern. Insgesamt erschienen zehn Alben bei JMT, die jetzt wieder als Reissues zu haben sind. Im Jahr 1993 wechselte Cassandra Wilson zu Blue Note. Ihr Stil, besser: die Arrangements der Musik veränderten sich. Wenige ausgewählte Instrumente schufen eine passende Kulisse, in der sich ihre Stimme optimal entfalten konnte. Funky Rhythmen und fließende Improvisationen, die sich wieder in den Themen bündeln, erinnern an die Musik von Miles Davis. Ihre Hommage Travelling Miles fand anerkennende Zustimmung beim Publikum. Einen Grammy als Beste Jazzsängerin erhielt sie 1996. Also der Blues, eine wohl nie versiegende Quelle schwarzer Identität und Inspiration. Und Cassandra Wilson hatte sich entschieden, direkt aus dieser Quelle zu trinken. Ihre Band hat eine entsprechend elementare Besetzung: Zwei Gitarristen, zwei Percussionisten und einen Bassisten. Als Gast spielt der über 80-jährige Boogaloo Ames auf Darkness On The Delta Klavier, einfach, aber vollgesogen mit Erfahrung, jeder Ton am richtigen Platz. Ein karger Blues, wie ein Schnappschuss vom Delta, den Cassandra Wilson in schwer atmender Phrasierung illustriert. Ihr dunkles Timbre malt sozusagen die brütende Hitze an der Flussmündung. Die Vorväter und -mütter melden sich in You Gotta Move, sie treiben die Musik Hände-klatschend an, und der Blues bildet sich im Gesang. Auch im trockenen, ja meckernden Gitarrenstil bei Justice raunt eine vergangene Zeit durch Cassandra Wilsons tiefe Stimmlage, die von feiner Percussion umrahmt wird. Und dann: Latin-Jazz. Von Antonio Carlos Jobim ist ein Stück dabei, das lebhaft mit dieser drückenden, aber nicht bedrückenden Blues-Luft kontrastiert. Der Mississippi ist nicht mehr träge, die Strömungen dringen an die Oberfläche. Auch die Stimme von Cassandra Wilson ist jetzt geschmeidig, schlendert in Rio / Only A Dream von James Taylor am imaginären Strand, so schön, dass die Augen glänzen. Songs von Bob Dylan, Jimmy Webb, Robbi Robertson und zwei Eigenkompositionen erweitern die Delta-Perspektive zur Musikinsel mit transamerikanischer Ausstrahlung. Die Dämmerung, die in der Stimme von Cassandra Wilson zu hören ist, braucht keine überfrachteten Arrangements. Dieser Übergang von Tag zu Nacht breitet sich schlicht in der ganzen Musik dieses Albums aus. Der Gesang ist das geheimnisvolle Kontinuum, formt eine organische Einheit in den Stimmungen aus dem Ursprungsland des Blues. Hans-Dieter Grünefeld
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