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Jazzzeitung

2012/04  ::: seite 15

rezensionen

 

Inhalt 2012/04

Inhaltsverzeichnis

Sternlein STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazz-ABC: Sparks, Melvin no chaser: Sommerfreuden Farewell: Trauer um den österreichischen Pianisten Fritz Pauer

Sternlein TITELSTORY: Indie Big Band Wonderland
Monika Roscher interpretiert die große Besetzung neu

Sternlein DOSSIER/GESCHICHTE -
Er erfand die Zukunft des Jazz
Louis Armstrong – zur Bedeutung der Hot-Five-Aufnahmen (1925–1928)
Saxophon spielen wie Art Tatum
Basies Weggefährten (6): Am 21. Oktober wäre Don Byas 100 Jahre alt geworden

Sternlein Berichte
55 Arts Club // Louis Rastig präsentiert in Berlin an vier Tagen ein generationsübergreifendes Festival // Jazzfestival Luxemburg in Dudelage //Jazz Sommer im Bayerischen Hof // „M3 – Musikkritiker machen Musik“ im Night Club Bayerischer Hof // 30. Ausgabe des Südtirol Jazzfestivals Alto Adige

Sternlein Portraits / Jubilee
Ray Anderson zum 60. Geburtstag// Joe Viera zum 80. Geburtstag//Geiger Adam Baldych // Waldemar Bastos // Susanne Heitmann // Michael Hornstein // Wadada Leo Smith // Karolina Strassmayer und Drori Mondlak

Sternlein Jazz heute und Education
Der „Bayernjazz“ und seine Sachwalter // Einstein-Kulturzentrum: Musik, Theater und mehr // Abgehört: Altsax à la James Brown: David Sanborns Solo über „Snakes“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

neues von gestern

Von Marcus A. Woelfle

Betty Carter
The Complete 1948–1961

2 CDs: Le Chant du Monde

Vor rund 20 Jahren konnte ich Betty Carters eigentümliche, enorm wendige, gleichsam instrumentale Stimme auf einem Festival erleben. Ihr seltsam verquerer Gesang verwandelte altbekannte Melodien bis zur Unkenntlichkeit in ganz persönliche, berückende Statements. Mit Verwunderung registrierte ich, wie sich die Reihen des Konzertsaales bedenklich lichteten und Besucher fast fluchtartig das Weite suchten. Hatte sie einen schlechten Tag, war man pietätlos mit einer alternden Diva, die einfach nicht mehr singen konnte? Keineswegs. Sie war genial und bei Stimme wie eh und je. Tagelang hätte ich da sitzen und staunen wollen: Kein noch so altehrwürdiger Standard war vor ihrem unorthodoxen Zugriff sicher. Sie überraschte mit unglaublichsten metrischen Verschiebungen: da kam es schon vor, dass sie im halben Tempo der Begleitband sang, das Trio im zweiten Chorus war und sie noch mitten im ersten. Wer da nicht mitkam oder es für ein Versehen hielt, verstand freilich nur Bahnhof.

Keine Frage, das Comeback (eher noch: der erste richtige Durchbruch) der Betty Carter in den letzten 10 Jahren vor ihrem Tod (1998) war wohlverdient. Das Geschick belohnte eine, die unorthodox gewesen und es unbeirrt geblieben war, und die nicht kommerziell klingen konnte, selbst wo sie es gewollt hätte. Eine, die kein cooles Sexpüppchen war, sondern ihr Gesicht schon mal zu unglaublichen Grimassen verzog, um Klänge zu erzeugen, die man sonst selten zu hören bekam. Nun liegt uns das Frühwerk Betty Carters, die uns als reife Dame wesentlich vertrauter ist, auf einer Doppel-CD vor, die uns zeigt, dass sie von Anfang an ihre interpretatorische Eigenart bewahrte und dafür erst einmal mit Gleichgültigkeit bestraft wurde. Oder kann man es anders deuten, wenn ein seit seiner Kindheit singendes Jahrhunderttalent bis zum 31. Lebensjahr nur zweieinhalb Stunden Musik aufnimmt? Und dabei sind bei der Zusammenstellung die wesentlichsten Sidewoman-Aufnahmen inbegriffen, denn erst 1955, mit 25, ließ man sie eine eigene Platte aufnehmen und selbst die gehörte nur zur Hälfte ihr: „Meet Betty Carter and Ray Bryant“.

Die Betty Carter jener Jahre 1948 bis 1961 war ein Geheimtipp der Hippen und dies, obwohl sie ihren diskographischen Einstand bei Lionel Hampton machte, der Lillie Mae Jones als Betty Bebop präsentierte – ein passend-unpassender Spitzame, der an Betty Boop erinnert, aber auch daran, dass die früh in ihrer Karriere von Charlie Parker ermutigte Sängerin sich als einfallsreiche Scatterin erst einmal von Ella Fitzgerald schulte. Carter, die laut Carmen McRae „einzige wirklich improvisierende Jazzsängerin“, hat sich zeitlebens von keinem Stil vereinnahmen lassen, auch nicht vom Bebop, und blieb eine Einzelgängerin im weiten Feld zwischen Mainstream und Avantgarde. Nachdem sie durch ihre Interpretation von „Red Top“ mit King Pleasure, einem Blues des am 5. Juli 2012 verstorbenen Hampton-Saxophonisten Ben Kynard, zu den ersten Vertretern der Vocalese gehörte (für die sie sich später kaum mehr interessierte), tritt sie ab den Aufnahmen mit Ray Bryant als Meisterin mit einem eigenen reifen Stil in Erscheinung. (Von den waghalsigen „Verrückungen“, die sie im Alter anstellte, entdeckt man allerdings erst die Keime). Hätte man intonatorische oder rhythmische Eigenheiten der frühen Aufnahmen noch als Unsicherheiten einstufen können, ist nun genug Raum und Planung im Spiel, dass man erkennen kann, wie geschickt und planvoll sie Rubati und Blue Notes – auch an Stellen, wo normalerweise keine zu erwarten wären – in ihre Geschichten einbaut.

Ihr Credo war, dass eine Sängerin wie eine Schauspielerin ganz in ihrer Rolle aufzugehen habe. Den Texten schenkt sie entsprechend mehr Aufmerksamkeit, als man es von lediglich auf sonoren Schönklang zielenden Interpreten kennt. Schon die ersten beiden Stücke von 1955, ein voll anrührender Zärtlichkeit auf der Zunge schmelzendes „Moonlight in Vermont“ und ein mit koboldhafter Witzigkeit und Quirligkeit gescattetes „Thou Swell“ zeigen ihren Radius. Die 1956 von einer 13köpfigen Studiogruppe begleiteten Songs wurden erst in den 60er Jahren veröffentlicht, es sind Perlen dabei wie der Gigi-Gryce-Song „Social Call“ und das in der Tat frenetisch angegangene „Frenesi“. Nachdem sie von Columbia fallen gelassen worden war, machte sie 1958 das stilistisch ähnliche Album „Out There“, wiederum mit Arrangements von Gigi Gryce und Melba Liston (und Sidemen wie Kenny Dorham und Benny Golson) für das gänzlich unbekannte Label Peacock. Hier muss das Manko bei der Vermarktung gelegen haben.

ABC-Paramount ließ sie 1960 für „The Modern Sound Of Betty Carter“ von einem anonymen Orchester unter der Leitung von Richard Wess begleiten: Poppiger Bigbandsound mit gelegentlichem Streichernebel geben einen leichtbekömmlichen Background für ihren ganz und gar nicht stromlinienförmigen Gesang. Das Rezept geht auf: 1961 kommt es zu „Ray Charles and Betty Carter“. Im Duo mit dem Soul Brother stellt sie ihre Hitfähigkeit unter Beweis. Das Arrangement von „Ev’rytime We Say Goodbye“ ist schrecklich süßlich, wenn auch aus der Feder von Marty Paich. Schon der Himmel voller Geigen ist zu viel und der rührselige Chor der Jack Halloran Singers überflüssig. Was könnte bei so einem Background anderes entstehen als Kitsch? Und doch: Nimmt man das alles schon für Ray Charles in Kauf, so ist alles vergeben und vergessen, sobald Betty Carter einsetzt. Bei ihr ist jedes Gefühl so echt und tief und darum jeder Ton so rührend, dass auch bei kitschresistenten Menschen kein Auge trocken bleibt.

Mit dem entwaffnend sinnlichen und zugleich umwerfend komischen „Baby, It’s Cold Outside“ stellten Betty Carter und Ray Charles schließlich alle früheren Interpretationen von Ella & Co in den Schatten. Kurz darauf war unsere Sängerin wieder für Jahre vergessen. Doch das ist eine andere Geschichte.

Das Label „Le Chant du monde“ veröffentlichte unlängst unter anderem auch von Abbey Lincoln, Nancy Wilson, Etta Jones, Nina Simone, Sarah Vaughan, Dakota Staton und Ray Charles Werkausgaben in ähnlicher Ausstattung. Zumindest die mir bekannten Boxen sind allesamt vorbehaltlos zu empfehlen.

Bill Evans
Live At Art D’Lugoff’s Top Of The Gate

2 CDs: Resonance Records

32 Jahre nach seinem Tod scheint das Kontingent an unveröffentlichten Meis-terwerken von Evans noch unerschöpflich. Gerade noch hat man „The Sesjun Radio Shows“ gefeiert, schon erfreut man sich an vorliegendem Doppelalbum. Die Aufnahmen vom 23. Oktober 1968 sind das erste Dokument von Evans’ Zusammenarbeit mit Eddie Gomez, seinem Bassisten seit 1966, und mit seinem eben erst engagierten Drummer Marty Morell – jenes wichtigen Trios, das in dieser Besetzung bis Anfang 1975 bestand.

Es ist, als wäre man Zeuge des ersten Kusses einer langen, glücklichen Liebesbeziehung. Es sind die einzigen Aufnahmen aus dem oberhalb von „The Village Gate“ gelegenen „Top Of The Gate“. Die Produktion mit Liner Notes aus berufenen Federn, darunter Erinnerungen der Mitmusiker, ist sorgfältig und liebevoll. Die Klangqualität ist beachtlich, zumal verglichen mit anderen frühen Dokumenten dieser Besetzung („Secret Sessions“). Wo bleiben die Verzückung der Hörer, der Lobpreis der Kollegen, die Hymnen der Kritiker? Entdeckte man alle paar Monate ein Meisterwerk von Claude Monet, ginge regelmäßig ein vernehmbares Rauschen durch den Blätterwald. Man nimmt heute die Einzigartigkeit des Pianisten, Komponisten und Leiters des wohl einflussreichsten Jazztrios kaum mehr wahr, so sehr sind selbst Details seines Klavierspiels und die konzeptionellen Innovationen seines Trios Gemeingut der heute Musizierenden geworden.

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