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Wenn der Posaunist Ray Anderson am 16. Oktober 60 Jahre alt wird, hat er mehr zu feiern als einen runden Geburtstag. Er kann nämlich froh sein, dass er dieses Jubiläum überhaupt erreichen darf. Natürlich denke ich über dieses Datum nach“, sagt Ray Anderson und lacht schallend. „Wer behauptet, dass sich eine solche Zahl wie die 60 ignorieren lässt, der lügt. Das erste, was mir zum Geburtstag in den Sinn kommt, ist Dankbarkeit. Ich bin erstaunt, noch am Leben und gesund genug zu sein, um wieder manierlich spielen zu können. Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Oder um es mit Dewey Redman zu sagen: ich bin nicht im Knast, ich bin nicht im Krankenhaus – dann muss wohl alles in Ordnung sein.“ Wieder so ein ansteckendes, lautes, heiseres Lachen. Foto: Ssirus W. Pakzad Das Schicksal hat sich an Ray Anderson die Zähne ausgebissen. Dabei fuhr es das ganze, hässliche Programm auf, bescherte dem damals Zwanzigjährigen zunächst eine schwere Diabetes, prüfte ihn später, Anfang der 80er Jahre mit einer halbseitigen Gesichtslähmung (die 2010 wieder kehrte und eine Tour der Gruppe BassDrumBone verhinderte). Als auch das ihn nicht zu brechen vermochte, wählte das Los eine härtere Gangart: Ray Andersons Frau erkrankte an Krebs und starb nach langem Martyrium. Aber noch immer will der Kerl nicht aufgeben. Nächste Prüfung, gar nicht lange her: Diagnose Kehlkopfkrebs. Auch von dem lässt sich der Musiker aus Chicago einfach nicht unterkriegen. Er übersteht mehrere Operationen und eine siebenwöchige Bestrahlung, fängt dann wieder an zu üben wie ein Junger und macht heute Musik, als wäre nichts gewesen. Er arbeitet unbeirrt weiter, pflegt seine Neugier und seine vielen musikalischen Kontakte. Man muss nur mal in die jüngsten Einträge seiner Diskografie schauen: da häuft es sich. Es gibt ein Duo-Album mit dem Gitarristen Steve Salerno, eine Quartett-CD, für die Ray Anderson mit Marty Ehrlich die gemeinsame Verantwortung trägt, Aufnahmen mit Harris Eisenstadts „Canada Day Octet“, BassDrumBone, Paul van Kemenade, Ricardo Gallos „Tierra De Nadie“ und eine aktuelle Veröffentlichung der Pocket Brass Band. Für die komponierte Ray Anderson im Auftrag der Organisation „Chamber Music America“ die „Sweet Chicago Suite“, eine Hommage an seine Geburtsstadt, die der Posaunist mit 16 verließ. Das sechsteilige Werk ist nicht nur eine Erinnerung an die lebendige, pulsierende Musikszene seiner Heimat, nein, es ist eine Art Kompendium des Jazz, ein Statement, dass die vielen Epochen und Stile dieser Musik mehr eint als trennt. Im Zeitraffer jagt Ray Anderson mit dem Trompeter Lou Soloff, dem Sousaphonspieler Matt Perrine und Schlagzeuger Bobby Previte querfeldein durch die Jazzgeschichte, berührt fremdes und bekanntes Terrain, schaut bei anderen Gattungen vorbei. „In der High School war ich noch ein totaler Jazz-Snob und habe auf Bands wie die Beatles verächtlich hinab geschaut. Aber diese Einstellung änderte sich rasend schnell. Ich wurde in Chicago von anderen Musiken förmlich überrumpelt“, sagt der Mann, der an der Seite von Anthony Braxton erste internationale Erfahrungen sammelte und dem bald eine der markantesten und eigenwilligsten Posaunenstimmen der Avantgarde attestiert wurde. Lange rechnete man ihn dem Lager der Freitöner zu, bis er mit Bands wie den Slickaphonics (und später der Alligatory Band) Funk-infizierte, anspruchsvolle Tanzmusik machte, in der er auch als Sänger mit herrlich kaputter „Double Pipe“-Stimme brillierte. „Ich habe nie darüber nachgedacht, ob ich nur einer Fraktion angehören soll. Wer Musik ernst nimmt, merkt ohnehin, dass sich die Grenzen zwischen den Genres schnell auflösen. In Chicago tickten damals viele so wie ich, selbst die Mitglieder der Avantgarde-Organisation AACM, etwa das Art Ensemble of Chicago. Die Musiker konnten sich eben noch mit Pierre Boulez beschäftigten und stimmten dann ohne Vorwarnung einen Reggae an. So muss es sein.“ Wenn der Jubilar jetzt mit dem Ray Anderson/Marty Ehrlich Quartett auf Deutschland-Tour seinen runden Geburtstag feiert, dann wird es bestimmt auch so sein: da werden Schlagbäume niedergewalzt, da wird munter zwischen vermeintlichen Genres gependelt. Nicht nur dafür: Herzlichen Glückwunsch. Text/Foto: Ssirus W. Pakzad |
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