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Im wilden, wilden Osten blühte einst eine üppige romantische Jazzwiese. Dixieblüten, Avantgarderosen, Cooltulpen und Swingkraut, es schillerte und leuchtete in allen Farben und duftete nach verschiedensten Klangwolken. Zarte und manchmal auch heftigere Winde versetzten die Wiese, die sich in alle DDR-Ecken erstreckte, in rhythmische Bewegung voller Spannung und dauernder Veränderung. Ein schöner Anblick und prächtiger Genuss, den die Ossis damals liebevoll hegten und pflegten und zuhauf genossen. Die Gärtner und Wiesenpächter konnten prima leben von ihren fruchtbaren Wiesen. Als irgendwann auch die Landbesitzer (Pachtgeber) schnallten, welch reichhaltige Pflanzenwelt hier üppig gedieh, erlaubten sie sogar die Ausfuhr von klangvollen Jazzsträußen in andere Länder – vorwiegend des Westens, weil dort mehr und härtere Devisen zu erzielen waren. DDR-Jazz wurde zum Markenzeichen. Wo das draufstand, waren landauf und landab die Clubs bestens besucht. Nach Günter »Baby« Sommers Solokonzert bei den Berliner Jazztagen 1979 und Auftritten von Bands bei Jazz Ost-West in Nürnberg und anderen Festivals war eine riesige Neugier nach diesen seltsamen und unbekannten Blüten, Farben und Klängen entstanden. Rainer Bratfisch, erster Nachkriegsjahrgang und renommierter Jazzpublizist der Vor- und Nachwendezeit, räumt allerdings mit dem Nimbus eines eigenständigen DDR-Jazz gleich im Vorwort „Vier Jahrzehnte Jazz in der DDR: verfolgt, geduldet, gefördert…“ gründlich auf. „Die Position des Jazz schwankte immer zwischen strikter Ablehnung und leiser Anerkennung, mehr oder weniger offener Verfolgung und verschämter Duldung, offener Antipathie und heimlicher Sympathie. Trotzdem wurde der Jazz in der DDR nie zum DDR-Jazz“, schreibt er in dem ausgesprochen ergiebigen Reader über die Jazzszene unter den Bedingungen des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates. Der Sammelband enthält, nach Jahrzehnten gegliedert, zahlreiche Aufsätze, Berichte, Interviews und Features von Musikern, Veranstaltern, Fans, Kritikern und Machern, die so ziemlich in alle Winkel und Ecken des Jazz der DDR – Clubs, Konzertreihen, Hochschule und Ausbildung, Plattenproduktionen, Publikationen, örtliche Verhältnisse et cetera – in all seinen Facetten und Farben hineinleuchten. Da wird aus Sicht des jungen Volksarmisten erzählt, der in der Hauptstadt seine kulturelle Liebe zum Jazz auslebt, die Perspektive des Aktivisten eingenommen, der weitab aller urbanen Zentren in einer Klosterruine ein Festival unter einfachsten Bedingungen initiiert, das sich bis heute halten konnte, und die persönliche Entwicklung eines Musikers skizziert. Es ist eine reiche und in sich ebenso bunte Sammlung an Fakten, Sichtweisen, Erlebnissen, Anekdoten und analytischen Ansätzen wie der Gegenstand seiner Betrachtung. Gerade darin liegen Gewinn und gleichzeitig Manko dieses Readers. Zum einem gibt es einen umfassenden Überblick über die vielfältigen Jazzaktivitäten im Arbeiter- und Bauernstaat mit einer großen Fülle von Detailkenntnissen. Andererseits wird dadurch der historisch-analytische Blick ein wenig weichgespült oder eher anekdotenhaft verkürzt dargestellt. So profitierte der Jazz zwar offenkundig von einer immanenten Aura der Subversivität und der individualistischen freiheitsliebenden Rebellion, was sich am Publikumsinteresse mit traumhaften Verkaufs- und Besucherzahlen ablesen ließ, stand aber auch im Ruch, eine zunächst staatlich geduldete und später geförderte „großzügige Spielwiese“ gewesen zu sein, wie es die Berliner Zeitung formulierte. Auch wird Konflikten und Kontroversen, wie zwischen Uli Blobels Darstellung der berühmten und wichtigen Jazzwerkstatt Peitz (Hauptstadt des Free Jazz der DDR) und deren Fall und der Selbstdarstellung Hannes Zerbes, zu wenig auf den Grund gegangen. Gute Gründe, das Buch in die Hand zu nehmen und zu lesen, gibt es dennoch genügend. Dazu gehören neben den für westliche Ohren manchmal skurril wirkenden Schilderungen ideologischer Verrenkungen und taktisch gewiefter Listen um zu seinem Ziel – Konzert, Festival, Clubabende oder ähnlichem – zu gelangen auch der umfangreiche und gründliche Anhang mit einer Chronologie des Jazz in der DDR, Personenregister und Bibliografie und eine CD mit unveröffentlichten Aufnahmen des 1. DDR All Stars Jazzkonzerts am 8. und 9. Dezember 1965 im Dresdener Hygiene-Museum. Dieses (das Hygiene-Museum) fällt auch heute immer wieder durch äußerst spannende Ausstellungen und besondere Aktivitäten bundesweit auf. An der historischen Session vor 40 Jahren waren Joachim Kühn mit seinem Trio (Klaus Koch, bass, Reinhard Schwartz, drums) und Ernst-Ludwig Petrowsky in verschiedenen Besetzungen beteiligt, beide heute noch höchst aktiv. Michael Scheiner
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