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Überlegen wir doch einmal: Wären Mike Stern oder John Scofield genauso erfolgreich geworden, wenn sie nur akustische Gitarre spielen würden? Oder was bleibt eigentlich übrig, wenn man sich bei der Band Kraftwerk die Technik wegdenkt? Oder wie würde sich populäre Musik heute anhören, wenn das Mikrofon nicht erfunden worden wäre?
Natürlich ist es etwas müßig, sich diese „hätte-“ und „wäre“-Fragen zu stellen – schließlich „hat“ und „ist“. Trotzdem stoßen sie uns auf eine spannende Ungewissheit: Wie sehr hat erst die technische Entwicklung ermöglicht, dass populäre Musik heute so klingt wie sie klingt? Ob wir als Musiker an der E-Gitarre oder als Hörer vor der Anlage stehen, schnell kommen wir zu einem ersten Ergebnis: Der Einfluss ist gewaltig! Kaum eine Band, die nicht auf Elektrizität angewiesen wäre; selbst so genannte „Unplugged“-Konzerte kommen nicht ohne „Plugs“ aus. Wie weit der Einfluss tatsächlich geht, wird jedoch erst klar, wenn wir uns die Musik vor dem technischen Zeitalter anschauen. Technik begann seine Wirkung auf die populäre Musik erst mit dem Einzug der Elektrizität in die Haushalte am Anfang des 20. Jahrhunderts zu entfalten. Bei sämtlicher Musik, die zuvor stattgefunden hatte, konnten die Künstlerinnen und Künstler ihre jeweiligen Instrumente nur im Rahmen der natürlichen Möglichkeiten einsetzen. Durch die beschränkte Lautstärke blieben ebenso die Spielorte, die von Gaststätten, Kneipen, Unterhaltungsbühnen, Varietés bis zu Ballsälen reichten, von vornherein in ihrer Größe beschränkt. Aus der heutigen Sicht würde man das vielleicht ein Problem nennen, doch aus damaliger Sicht war das schlicht Alltag.
Kleine Ensembles mit und ohne Gesang waren in der populären Musik an der Wende zum 20. Jahrhundert zunächst gang und gäbe, doch die Nachfrage des Publikums änderte das. Die einsetzende Industrialisierung brachte den Menschen verschiedene Vorteile. Zum einen stieg durch die Verkehrsmittel die Mobilität und zum anderen glichen sich die sozialen Schichten an. Das bedeutete mehr Freizeit für größere Bevölkerungsgruppen. Mit dieser gewonnenen Zeit wuchs das Vergnügungsstreben und dadurch auch die Nachfrage nach größeren Veranstaltungen mit dementsprechend lauteren Bands. Der Drang wuchs, größere Räume mit Klang füllen zu können. Dafür standen damals nur drei natürliche Möglichkeiten zur Verfügung: die Gesangs- und Spieltechnik, die Bauart der Instrumente und die Größe und die Besetzung der Ensembles. Norah Jones als Koloratursopran
Gerade für die menschliche Stimme, die schon in einer vergleichbar kleinen Besetzung Schwierigkeiten hatte, sich unverstärkt durchzusetzen, war es schon immer anspruchsvoll gewesen, genug Lautstärke zu entwickeln. In der klassischen Musik hatte man sich beholfen, indem man mit den Jahrhunderten eine Gesangstechnik zusammen mit einer entsprechenden Raumarchitektur entwickelt hatte, durch die Sänger selbst ein Orchester übertönen konnten. Zwar hatten die Sänger der populären Musik keine Konzertsäle und Opernhäuser zur Verfügung, aber dafür begannen viele, sich an dieser Art des Singens zu orientieren. Wer sich nun Norah Jones mit Koloratursopran vorstellt, weiß, wie groß der Unterschied zum heutigen Klang war. Auch dem Kontrabass, der als gestrichenes Instrument nicht sehr laut wurde, kam eine neue Spielweise zugute. Der Überlieferung nach soll Bill Johnson dafür verantwortlich sein. Bei einem Auftritt im Jahre 1911 brach ihm der Bogen, und er begann, die Saiten mit den Fingern anzureißen. Seine Verlegenheitstechnik etablierte sich und war so erfolgreich, dass der Kontrabass damit die zuvor lautere Tuba vom Bassplatz vertrieb. Kein Bandleader würde seine Musiker heute noch nach ihrem Lautstärkevermögen aussuchen. Früher also durchaus ein Kriterium.
Wenn man die Instrumente selbst nicht so bauen konnte, dass sie lauter wurden, und auch eine andere Spieltechnik nichts half, so blieb einem nur noch die Vergrößerung der Ensembles. Der „Wiener Walzerkönig“ und clevere Musikvermarkter Johann Strauss überbot dabei alles. Bei der Eröffnung des Weltfriedens-Festivals 1872 dirigierte er mit der Hilfe von 100 Subdirigenten das „größte Orchester aller Zeiten“. Nachdem ein Kanonenschuss das Startzeichen gegeben hatte, intonierten 20.000 Sänger und Musiker „An der schönen blauen Donau“. Das Publikum war außer sich vor Begeisterung. Ein Eintrag ins Guinessbuch wäre ihm damals wohl sicher gewesen. Mit den drei Möglichkeiten der natürlichen Verstärkung ließ es sich gut leben. Nur Sänger hatten schlechte Karten. Weder konnten sie die Bauweise ihrer Stimme anpassen, noch etablierte sich der mehrstimmige Gesang im Jazz. Deswegen verzichtete man oft lieber ganz auf Sänger und ließ instrumentale Tanzorchester und später Big Bands zum Tanz aufspielen, was beim Publikum sehr gut ankam. So war es zunächst auch kein Musiker, der als Hobbybastler die Möglichkeit der elektrischen Verstärkung entwickelte, sondern eine Reihe von Berufserfindern. Der bekannteste unter ihnen ist wohl Alexander Graham Bell, der das Patent für seinen Apparat mit dem Namen „Sprechender Telegraf“ – heute bekannt als Telefon – anmeldete und damit seither als dessen Erfinder gilt. Opern am TelefonViele Techniktüftler erhofften sich von ihren Geräten einen Nutzen, der sich nie durchsetzte und über den wir heute eher schmunzeln würden. Thomas Edison, der mit seinem Phonographen ungewollt das Zeitalter der Musikaufzeichnung einläutete, dachte seiner Erfindung ursprünglich zu, die letzten Worte von Sterbenden aufzuzeichnen. Beim Telefon kursierte dagegen die Vorstellung, damit Opernübertragungen in private Wohnungen und Häuser zu bringen. Die Menschen taten Alexander Bell diesen Gefallen nicht. Kein Wunder, war der kratzende, rauschende und verzerrte Klang, den man nur mit ans Ohr gepresstem Hörer vernehmen konnte, doch alles andere als ein Ohrenschmaus.
Ein Grund dafür, dass die Verstärkung von Musik trotzdem bald zum Thema wurde, war Edisons Phonograph, mit dem man Musik aufnehmen konnte. Der Besitz eines Grammophons zum Wiedergeben gehörte schon bald zum guten Ton, so dass nun prinzipiell jeder zu jeder Zeit und an jedem Ort Musik hören konnte. Mit dieser Technik löste sich die Musik also von Raum und Zeit – damals eine unvorstellbare Neuerung. Für die Aufnahme hatten sich die Techniker dabei etwas Cleveres einfallen lassen. Mit dem Abstand der Musiker zum Aufnahmetrichter im Raum konnten sie die unterschiedliche Lautstärke der Instrumente zueinander regeln. So saß beispielsweise die leisere Sängerin im Aufnahmeraum direkt vor dem Trichter, während die laute Trompete in gebührendem Abstand blies. Dadurch schoben sich der Gesang und die leisen Instrumente wieder mehr in den Vordergrund und plötzlich brauchte man neue Möglichkeiten, um auf der Bühne spielen zu können, was einem aus dem Grammophon schon längst entgegenschallte. Nun ging es schnurstracks Richtung „Public Address System“ (PA), also an die Verbindung von Mikrophon, Lautsprecher und Verstärker zu einem Musiksystem, bei dem mit einem Mischpult die verschiedenen Tonsignale zueinander in ein Lautstärkeverhältnis gebracht werden konnten. Doch auf sich allein gestellt hätten Musiker wohl sehr lange gebraucht, um dabei den heutigen technischen Stand zu erreichen. Die Politik kam ihnen aus recht unmusikalischen Gründen zu Hilfe. Die Stimme des GigantenAls erstes entdeckten amerikanische Politiker die Macht der Lautstärke. So förderten die Präsidenten Woodrow Wilson und Waren Gamaliel Harding die technische Entwicklung, da sie die Chance erkannten, durch die elektrische Verstärkung zusammen mit ihrer Stimme auch ihre politische Botschaft verstärken zu können. 1921 baute die Firma AT&T neun Tage lang ein riesiges PA-System auf dem Arlington Friedhof in Washington auf, um die Rede von Präsident Harding zu übertragen. Von dem unglaublichen Erfolg dieser Rede – oder sollte man besser sagen dieser Technik? – berichtete die „New York Times“ am nächsten Tag. „The voice seemed to come from the chest of a giant. Words which were strongly accented crossed the square to Broadway in one direction and to Twenty-third Street on the other.“ Begeistert von seinem Erfolg ließ der Präsident beim folgenden Wahlkampf mehrere Lautsprecher auf seinem Eisenbahnwagon installieren und hielt seine Reden fortan so. Doch nicht nur amerikanische Politiker erkannten die Macht der Technik. Auch Adolf Hitler festigte später seine Macht durch Erfindungen wie dem Radio als Instrument der Propaganda oder der Entwicklung des Magnettonbandes und des Tonbandgerätes als Möglichkeiten, seine Reden für die Ewigkeit zu konservieren. Die Musik profitierte davon. Nachdem der Phonograph die Musikwelt für den Teil der Tonaufnahme so bedeutend verändert hatte, war es jetzt die elektrische Verstärkung die den Teil der Live-Musik umkrempelte. Doch was genau veränderte sich? Pubertäres KörperempfindenNa klar, da war zunächst die Lautstärke. Elektrisch verstärkt konnten nun im Prinzip jede Stimme und jedes Instrument beliebig laut gemacht werden. Das gab jedoch nicht nur den Musikern mehr musikalische Freiheit, sondern wurde ebenso für die Zuhörer wichtig, deren Anzahl bei einem verstärkten Konzert nun keine Grenzen mehr gesetzt waren. Über die Beatles wird berichtet, dass sie zu ihrer Zeit auch deshalb solchen Ruhm erlangten, weil sie eine der lautesten Bands waren. Wer sich die hemmungslos kreischenden und völlig außer sich geratenen Fans der Beatlemania ins Gedächtnis ruft, dem wird klar, dass die Musik nicht der einzige Grund dafür gewesen sein konnte. Die Lautstärke gehörte dazu. Wir können ein Konzert hören und sehen, aber erst durch die Verstärkung wird die Musik so laut, dass wir sie auch intensiv körperlich spüren können. Für Jugendliche in der Pubertät bedeutet laute Musik seitdem eine Möglichkeit, das eigene Körpergefühl zu intensivieren – eine wichtige Quelle der Selbstvergewisserung gerade in der Zeit der Verunsicherungen des eigenen Körperempfindens. Der Lautstärkerekord ließ nicht lange auf sich warten, denn selbst die Ohren von Musikfans haben (Schmerz-) Grenzen. Heute ist die Band „Manowar“ mit fast 130 Dezibel Lautstärke im Guinness Buch der Rekorde als „Die lauteste Band der Welt“ verzeichnet. Laut und auf die Dauer ungesund. Zum Vergleich: stehen wir zehn Meter neben einer Flugzeugturbine oder einem Presslufthammer klingen uns nur 110 Dezibel in den Ohren.
Sobald die elektrische Verstärkung sich durchgesetzt hatte, stieg die Zahl der technischen Geräte und bald schon sah man auf mancher Bühne zwischen allen Verstärkern, Mikrophonen und Effektgeräten kaum noch die Musiker selbst. In der Anfangszeit wurde jeder Musiker selbst zu einem Techniker, da er seine technischen Geräte allein bedienen musste. Doch bald brauchte es einen eigenen Techniker, der am Mischpult den Gesamtklang steuerte. Hier fand der Satz „Der Musiker ist immer nur so gut wie der Techniker ihn gut sein lässt“ seinen Ursprung. Da die Musiker auf der Bühne nicht mehr abschätzen konnten wie ihre verstärkte Musik für das Publikum klang, mussten sie sich ganz auf den Tontechniker verlassen. Dieser war dadurch nicht länger nur ein Techniker, sondern er wurde selbst zum Künstler, der an der Musik ganz entscheidend mitwirkte. In der gleichen Folge entstand auch der Beruf des „Sound-Designers“. Besonders anhand der Gitarre lässt sich eine der wohl weitreichendsten Veränderungen durch Technik besonders gut festmachen. Bei der Einführung der elektrischen Verstärkung gab es für die Gitarre weiterhin Probleme. Um genug Lautstärke zu erreichen, musste das Mikrophon so dicht vor dem Gitarrenkorpus angebracht werden, dass schnell unangenehme Rückkopplungen entstanden. Zwei Entwicklungsschritte brachten Abhilfe. Zum einen wurden statt des Mikrophons elektromagnetische Tonabnehmer (Pick-Ups) entwickelt, die so ähnlich wie die Nadel beim Plattenspieler ohne Schalldruck funktionierten. Zum anderen machte Lester William Polsfuss, der sich später Les Paul nannte, die Gitarre ohne Korpus (Solid Body) berühmt. So entstand die elektrische Gitarre. Mit beiden Neuerungen zusammen bekam man nicht nur die Rückkopplungen unter Kontrolle, sondern brachte gerade für die E-Gitarre eine völlig neue Dimension der populären Musik zum Vorschein: den Sound! Hierin liegt eine der bedeutendsten Entwicklungen für die gesamte populäre Musik. Der Klang der Stimme und der Instrumente wurde durch die genutzte Technik zwangsläufig so stark verändert, dass sich die Künstler damit auseinandersetzen mussten. Besonders schnell bemerkten das Sänger und Gitarristen, da sie erst durch die elektrische Verstärkung in den Vordergrund treten konnten. Gitarristen wie Eddie Durham, Lonnie Johnson, T-Bone Walker oder Charlie Christian wurden gerade auch durch ihren einzigartigen Sound zu Begründern der Erfolgsgeschichte der Gitarre als Soloinstrument. Mit der kontrollierten „Verzerrung“ und „Übersteuerung“ etablierten sie die ersten beiden Klangeffekte, die nicht länger als technische Fehler und damit als Geräusch, sondern als künstlerische Mittel und damit als Musik angesehen wurden. Wenn wir ein paar Jahre weiter denken, dann lässt sich von Jimi Hendrix, John Scofield oder Mike Stern der Soundanteil an der Musik überhaupt nicht mehr wegdenken. Sängerinnen und Sänger merkten dies ebenso schnell. Plötzlich waren sie trotz lauter Begleitung zu hören. Und nicht nur das. Besonders mit der Erfindung des hochsensiblen Kondensatormikrophons schwoll jedes Flüstern, Hauchen oder noch so leises Geräusch auf eine für alle hörbare Lautstärke an. Jetzt traten die so genannten „Crooner“ ihren Siegeszug an. Mit einem neuen Gesangsstil gelangten zuerst Bing Crosby und Frank Sinatra zu Weltruhm und bis heute sollten Ihnen viele folgen. Der Effekt war einfach und höchst wirksam. Das „Croonen“, also das leise Singen, Brummen oder Hauchen, war bisher wegen der geringen Lautstärke nur im ganz privaten, ja intimen Rahmen möglich gewesen. Jetzt fand es vor großem Publikum statt und büßte dennoch nichts an Intensität und klanglicher Nähe ein. Die Zuhörer waren hin und weg, denn Bing Crosby schien jedes Mal nur für sie ganz persönlich zu singen. Das schlug sich auch in den Texten nieder, in denen die Hörer mit „My Dear“ oder „Especially for you“ immer stärker direkt angesprochen wurden, was den Effekt noch verstärkte. Der Sound wurde im Laufe der Zeit zu einem ausschlaggebenden Kriterium, ob im Jazz, Rock, Pop, oder Country – von der elektronischen Musik ganz zu schweigen. Das wird spätestens klar, wenn man versucht, populäre Musik nach dem klassischen Notensystem zu spielen. Egal ob Miles Davis, The Who oder ABBA, ohne eine Vorstellung ihres Sounds würde ihre Musik nach Noten sehr enttäuschend klingen. All diese Beispiele zeigen deutlich, wie groß die Einflüsse von Technik auf die populäre Musik sind. Nicht nur beim Live-Konzert ist Technik inzwischen zur elementaren Vorraussetzung für das künstlerische und wirtschaftliche System geworden, in dem Musik entsteht. Doch ist dieser Einfluss zu groß? Und haben wir durch die Technik an Kreativität und Selbstbestimmung eingebüßt? Diese Fragen, die nicht nur Theodor W. Adorno (Dialektik der Aufklärung) oder Charly Chaplin (Modern Times) beschäftigte, kann jeder Musiker und jeder Hörer für sich selbst beantworten. Eine wie ich finde sehr spannende Überlegung, die ich gern der einen oder dem anderen musikalischen Techniksklaven oder Technikhasser ins Buch schreiben würde. Da fallen Ihnen doch sicher auch einige ein, oder? Felix F. Falk
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