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Mit Mike Westbrook hat der europäische Jazz neue Dimensionen gewonnen. Das betrifft die Arbeit mit großen Bands, also die orchestralen Aspekte, aber auch die Beschäftigung mit facettenreichen und teilweise abendfüllenden Kompositionen und schließlich auch die thematischen Erweiterungen. Westbrook wird nicht müde, sich immer wieder einmal mit Standard-Material des Jazz auseinanderzusetzen, doch er streckt seine Fühler in alle Richtungen aus und vertieft sich gern in die Tradition der europäischen Moderne.
Seine erste Band formierte er bereits Ende der 50-Jahre, während seines Studiums an der Art School in Plymouth. Schon damals arbeitete er mit einem Musiker zusammen, der gleichfalls für einen Jazz mit neuer Identität profilbestimmend werden sollte: der Baritonsaxophonist John Surman. Bezeichnend auch, dass Westbrook – wie so viele der späteren Innovatoren britischer Jazz- und Rockmusik – seine Laufbahn als Kunststudent begann. Von vornherein betrachtete er die Musik aus anderen Perspektiven als manche der eher technisch-handwerklich orientierten Absolventen der Musikakademien. In der Sängerin und Textdichterin Kate Barnard fand Westbrook seine Muse. Sie kommt ebenfalls von der bildenden Kunst, ist Malerin, Sängerin, Textdichterin und in mehreren Sprachen zu Hause. Das Paar Mike und Kate Westbrook bildet seit Anfang der 70-Jahre den Nukleus für die diversen, oft groß dimensionierten Projekte und fand schließlich – parallel zu all den anderen Aktivitäten – zurück zur Zweisamkeit in Gestalt des Duos mit Mike am Klavier und Kate Westbrook, Gesang. „Stage Set“ heißt eine Platte, die die intimen Dialoge dokumentiert. Dabei reicht die Bandbreite der Lieder von eigenen Texten und Kompositionen über Songs von Bessie Smith, Billie Holiday, Duke Ellington, Bertolt Brecht und Kurt Weill bis zu Lyrik von Johann Wolfgang Goethe und Paul Eluard in eigenen Vertonungen und Interpretationen. Die Frage, was all das zusammenhält, betrifft nicht nur dieses eigenwillige und facettenreiche Songbook, sondern auch die mit unterschiedlichsten musikalischen Materialien arbeitenden Kompositionen und Arrangements. Eine alles vereinende Intention gäbe es nicht, betont Mike Westbrook, aber er könne umreißen, was ihn in etwa an Texten und musikalischen Vorlagen interessiert: „Humor, Abgründigkeit, echtes Gefühl, oft auch die Extreme zwischen Lebenslust und Traurigkeit, tief Persönliches wie auch ein sozialkritischer Impetus.“ Man müsse nur in die Musik hineinhören und sie aus dem Geist eines Jazzimprovisators fortspinnen. „Von da aus“, so Westbrook, „ergibt sich wie von selbst eine theatralische Dimension. Will man diese an die Musik von außen herantragen, geht es schief. Alles muss eine Art Leichtigkeit behalten.“ Das sagt einer, der kolossale musikalisch-szenische Produktionen auf die Bühne gestellt beziehungsweise für Film und Fernsehen realisiert hat. Mike Westbrook, geboren am 21. März 1936 im englischen High Wycombe, machte Anfang der 60-Jahre, damals bereits in London ansässig, mit einem Sextett von sich reden, das 1967 wesentlich aufgestockt wurde: zur Mike Westbrook Concert Band. Mit dieser, einem Ensemble, das zehn bis sechsundzwanzig Musiker umfasste, realisierte er erstmals einige seiner orchestral angelegten Stücke, die mitunter hymnischen Charakter trugen und stets Freiräume für die beteiligten Musiker offen hielten, mithin Komposition und Improvisation in ein spannendes, reibungsvolles Verhältnis setzten. Westbrook profilierte sich als Jazzkomponist, und er erläutert: „Von Anfang an ging es mir, im Unterschied zu jenen, deren Kompositionen lediglich als Plattform für die solistische Selbstdarstellung angelegt sind, um Komposition für große Kollektive.“ Solches hat Traditionslinien, die im Jazz bis zu Ellington zurückreichen und – wenn auch mit anderen Instrumentationen und Ausdrucksmitteln – an die europäische Sinfonik anknüpfen. Doch Westbrook hat überdies andere Quellen assimiliert: englische Volksmusik, Cabaret und Musiktheater zwischen Stegreifspiel und großer Oper. Der Pianist und Tubist, der sich vor allem als Komponist und Initiator von musikalischen Prozessen begreift, betont gern seine Verbundenheit mit der Jazztradition, die er mit Werken wie „On Duke’s Birthday“ eindrucksvoll bezeugt hat. Jährlich, am Geburtstag von Duke Ellington, so hat es Westbrook zur Tradition werden lassen, ehrt er den Meister mit einem Konzert. Als Jazzmusiker geht er improvisierend mit Melodien und Harmonien um, mehr noch: Er spielt nicht nur mit Songstrukturen, sondern mit komplexen Strukturen und schließlich auch mit unterschiedlichen Genres. Anfang der 70-Jahre arbeitete er mit der Multi-Media Gruppe „Cosmic Circus“, dann auch mit einer rockorientierten Band namens „Solid Gold Cadillac“ und ab 1973 mit der Mike Westbrook Brass Band, aus der Großformationen wie das Mike Westbrook Orchestra und ein mit Musikern aus Jazz und Sinfonik besetztes New Westbrook Orchestra hervorgingen. Als Kontrast zum Großformat entstand die mobile Trio-Truppe „A Little Westbrook Music“ mit Kate und Mike Westbrook sowie dem Saxophonisten Chris Biscoe. Allein die Titel der Werke von Westbrook aufzuzählen würde mehrere Seiten füllen. Das Spektrum reicht vom Jazz Cabaret „Mama Chicago“ über „Westbrook Rossini“ und der Beschäftigung mit den Beatles, „Off Abbey Road“, bis zu musikalischen Reflexionen zu Gemälden, „Art Wolf“ und „Turner in Uri“. Mit „The Cortége“ gelang Westbrook 1979 ein großer Wurf. Dem Gedanken einer Prozession folgend, nahm er das Grundmuster eines New Orleans Funerals auf, das sich metaphorisch auf den Zyklus Leben-Tod-Leben bezieht und Lyrik von Arthur Rimbaud, Hermann Hesse, Frederico Garcia Lorca, William Blake in einen Jazz-Kontext stellt. Mike Westbrook transzendiert die herkömmlichen Muster des Jazz. Doch er negiert sie nicht; er reichert sie an, verknüpft sie mit neuen Erfahrungen. Die visionären Texte eines William Blake (1757–1827) haben ihn immer wieder beschäftigt. Mit „Glad Day – Settings of William Blake“ komprimiert er diese Faszination auf einem Doppelalbum, lässt er die beiden wichtigsten Stimmen in seiner Musik – die seiner Frau Kate Westbrook und die von Phil Minton – Blakes Lyrik vielgestaltig aufleuchten. Verinnerlichung und Andacht, Aufschrei und Protest. Mike Westbrook hat mit seinem Werk ein Panorama europäischer Kultur aus der Perspektive eines vom Jazz inspirierten Künstlers entworfen.
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