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Kann es sein, dass jede ästhetische Arbeit mit einem Bruch beginnt? Damit, dass etwas zu Ende geht oder verschwindet? Zumindest in der Moderne war es so. Die Avantgarden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wollten Schluss machen mit dem, was es schon gab. Wahrheit hieß für sie: Es muss anders sein, als es bisher schien. Und: Zukunft bedeutete: das wegräumen, was alles verdeckt. Die neue Schönheit verdankte sich der Reduktion. Auch die politischen Strategen bedienten sich des Wegstreichens: Die Emser Depesche, die am Beginn des deutsch-französischen Kriegs 1870 stand, wurde erst durch Zuspitzung (also: Weglassen) zur Provokation. Es gibt keine Moderne ohne Cut. Cut bedeutet: etwas fällt weg. Die Russischen Formalisten zeigten, dass es in der Kunst Fortschritt nur geben kann, wenn man mit der Vergangenheit bricht. Peter Handke sagte: Man kann eine Form nur einmal verwenden. Soll heißen: Durch Wiederverwendung wird jede Form zur Lüge. Sie entdeckt nicht mehr Wahrheiten, sondern verdeckt sie. Für den Jazz bedeutet das: Mann kann jede Improvisation nur einmal verwenden. Aber was ist mit den Themen? Verlangen die Themen nicht nach Variation? War Jazz nicht immer beides: traditionstreu und umstürzend-revolutionär? Hieß Entwicklung im Jazz nicht: da capo, ein wenig anders. Die Geschichte des Jazz war stets paradox. Jazz-Musiker liebten Standards – und veränderten sie. Jazz hieß: immer dasselbe, immer anders. Nicht erst die neuere Pop-Musik (vor allem die elektronische) hat ein Faible für Remixes. Auch der Jazz wiederholte, „handmade“, ein Thema so lange, bis es ganz neu war. Die Geschichte der Musik ist voller Verfeindungen – und Missverständnisse. Der legendäre E-Musik-Komponist Giacinto Scelsi konnte keine Noten schreiben (oder lesen). Alle seine Werke verdankten sich Improvisationen. Die Wahrheit hat viele Gesichter. Am Ende wählte Scelsi eine Improvisation aus. Andere notierten sie. Das war für manche ein Skandal. Als bestünde Musik in der Kunst der Notation. Als hätten Scelsis Stücke „in Wahrheit“ die geschrieben, die sie notierten. Das ist so, als würde man Einsteins „Rechenknechten“, die notierten, was er dachte, die Entdeckung der Relativitätstheorie zuschreiben. Was an Scelsi befremdet, ist etwas anderes: dass er sein Leben lang improvisierte und doch immer nur die notierte Form gelten ließ. Seine Bänder verschwanden in den Safes seiner Stiftung. So viele Improvisationen – und am Ende nur eine panische Wahrheit. Andere Komponisten der E-Musik-Avantgarde gingen, als wüssten sie von Scelsi, den anderen Weg. Sie notierten streng, sie waren Baumeister auf dem Papier, inspiriert von Logik und Mathematik – und ließen am Ende den Interpreten viele Freiheiten. Je mehr sich die Notation dem Kalkül näherte, umso mehr Möglichkeiten sollte sie in der Praxis bieten. Jede Aufführung sollte ein Unikat sein; etwas, das sich genau in diesem Augenblick durch die Entscheidungen der Spieler hindurch ereignet. Von den Spielern wurden nur eines verlangt: Konsequenz; dass sie ihre Lesart der Partitur, die so viele Lektüren anbot, durchhielten. Wenn Frank Sinatra singt: „I did it my way“ – ist das Jazz? Gibt es hier eine biographische Wildnis, die nach einer freien Form sucht, die man Jazz nennen könnte. Oder sucht Sinatra etwas anderes: Pathos, mit dem man Mäuse fängt; die Suggestion einer Erfahrung, die Weisheit vortäuscht und auf Effekte setzt. Und was ist, wenn der wüst-suizidäre Punk Sid Vicious, aufgewühlt von seiner „Sex Pistols“-Karriere (und deren Ende, für ihn zumindest), schon gezeichnet vom Mord an seiner Freundin und vom Untergang, dieses „My Way“ zelebriert wie nie zuvor, indem er es zerstört, nicht singt, sondern rülpst und, schlimmer noch, die zeitliche Ordnung vollkommen durcheinander bringt. Cut? Remix? Jedenfalls mehr als die Zerstörung eines Songs: die Vernichtung einer Lebensform (und natürlich: einer Songform), die mit den Verlusten nur kokettiert. „My Way“, von dem an seinem Ende angekommen Punk Sid Vicious in seine Einzelteile zerlegt, macht aber auch bewusst, dass jede Musik Strukturierung von Zeit ist: schnell, langsam, löchrig, das sind die entscheidenden Fragen. Oder, im House-Kontext: Wieviel kann ich von einem Thema weglassen, damit die Melodie noch wirkt. Der ideale Effekt: Wenn ich das Thema erst spät, aber dafür machtvoll-unausweichbar „entdecke“. Wenn es sich wirksam verbirgt in einer Parallelstruktur – einer Formel, die so tut, als handle sie von etwas ganz anderem – und dann so hervorbricht, dass ich mich ihm nicht entziehen kann. Es soll Menschen geben, deren Aufmerksamkeitshorizont nicht weiter als ein paar Sekunden reicht. Sie müssen überall in der Wohnung Zettel anbringen, die ihnen sagen, wer sie sind und wohin sie wollen. Was für eine Musik kann ein Mensch hören, der sofort alles vergisst? Hilft es ihm, wenn man alles, was nicht wesentlich ist, weglässt? Aber vielleicht beruht dieser Gedanke auf einem Missverständnis: Ein Remix entsteht ja nicht, weil das Original fehlerhaft war. Ganz im Gegenteil: Nur das Vollkommene verlangt nach einer Variation. Mozart und Schubert entdeckten in den schlichtesten Volksliedern etwas, was sich nicht so rasch erschöpft. Brahms variierte Haydn. Und die Remixer des Jahres 2005, die auch im Jazz überhand nehmen, weil nicht mehr alles „handmade“ sein und in dieser Sekunde entstehen muss? Sie suchen nach einem Paradox: nach etwas, was hält und doch vergeht, also Platz lässt. Ein Remixer, sagte einst ein DJ zu mir, ist ein Herr der Zeit. Er hat alles in der Hand. Er stellt mit uns an, was er will. Und wir gehen mit ihm mit, wir fangen sogar an zu tanzen, wenn wir ihm vertrauen. Helmut Hein |
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