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Immer mal wieder dieselbe Erfahrung: Wer nicht bis zum Schluss bleibt, verpasst das Beste. Am Ende eines Gigs, der die Vorschusslorbeeren nur bedingt rechtfertigte, drehte Viktoria Tolstoy endlich auf. Sie löste sich von einem Konzept, das ihre Energie bis dahin eher fesselte, und sang wie befreit den Blues.
Im Vorfeld war viel die Rede davon, wie gut die blonde Schönheit aus dem hohen Norden aussieht. Dass sie auch singen kann? Weniger wichtig? Purer Sexismus! Denn sie kann singen, und insofern tut ihr weidlich unrecht, wer sich in erster Linie auf die attraktive äußere Erscheinung konzentriert. Viktoria Tolstoy widersteht der Versuchung, in weichgespülten Standards zu baden, vielleicht ein bisschen Countryluft zu schnuppern und ansonsten den Mechanismen eines starsuchenden Marktes zu vertrauen. Vielleicht weiß sie ja auch, wie schnell manche kurzlebigen Sternschnuppen auch am Jazzhimmel verglühen können. So kämpft sie wacker und mit lauterem Herzen um ihre musikalische Identität, setzt sich zeitweise mit instinktiver Skepsis von der mädchenhaften Naivität ab, die zur Zeit so markttauglich ist. Die junge Lady bleibt dem Genre des klassischen Jazzgesangs in der durch ihr großes Vorbild Billie Holiday angestoßenen Tradition treu in der Art, wie sie singt. Was sie singt dagegen, ist brandneu: Die Kompositionen des schwedischen
Pianojungstars Esbjörn Svensson, mit dem Tolstoy bereits Mitte der
90er zusammenarbeitete, vereinen die Eingängigkeit von Popsongs mit
der Raffinesse des Jazz, weisen damit eigentlich genau die Qualitäten
auf, welche die guten alten Jazzstandards auszeichnen. Das kommt der Sängerin
durchaus entgegen, die Svenssons Songs sowie einige einschlägige
Klassiker in gut balanciertem Timbre und melodiesicherer Nuancierung interpretiert. Auch in anderer Hinsicht bleibt der Gesamteindruck ambivalent. Der Wendigkeit und Intonationssicherheit von Viktoria Tolstoys Stimme fehlt es zeitweise deutlich an Volumen und Kraft, der gesangstechnisch einwandfreien Vorstellung mangelt streckenweise der letzte Kick. Das ist zwar auf hohem Niveau gejammert, aber letztlich unverkennbar. Andererseits wiederum nimmt die Sängerin ein durch die unprätentiöse Wahrhaftigkeit ihres Auftretens und die spürbare Intensität, die sie vor allem in zarte Balladen legt wie „Love Is Real“ oder „Wonder Why“. Nicht zuletzt überzeugt Viktoria Tolstoy zunehmend dann, wenn sie sich von Stereotypen und Vorgaben der Image-Kampagne löst. Da sind alle „Congratulations“ angesagt. Das blitzt zuerst auf im Standard-Standard „Caravan“, verfestigt sich in Jerome Kerns Klassiker „The Way You Look Tonight“ und Cole Porters „I Concentrate On You“, sowie mit grandioser erzählerischer Qualität und jeder Menge Herz in der bluestrunkenen Apotheose „Sorry Baby“. Tobias Böcker |
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