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Seinen letzten Auftritt in Europa hatte er zu den Leipziger Jazztagen im September 1995. Hinter der Bühne wirkte er so zerbrechlich, dass man beinahe Angst bekam, er könne im nächsten Moment zusammenbrechen. Doch als er dann gemeinsam mit seiner Gruppe ins Scheinwerferlicht trat, schien sich der von Alter und Krankheit gekennzeichnete Graubart beinahe in einen leichtfüßigen Jüngling zu verwandeln. Er spielte mit jener Eleganz, die die Schwere seines Instrumentes vergessen ließ. Gerry Mulligan hat dem Baritonsaxophon
einen gänzlich eigenen Ton entlockt: geschmeidig, gebunden, scheinbar ein wenig unterkühlt, doch unter der
Oberfläche höchst emotional. Als Musiker mit einer bewundernswerten Souveränität und einem nicht
versiegen wollenden improvisatorischen Einfallsreichtum wird er unvergesslich bleiben. Auch mit jenen Titeln, die
zu seinen Markenzeichen zählten wie Line For Lyons und Walking Shoes. Vier Monate nach
seinem Konzert zu den Leipziger Jazztagen war Gerry Mulligan nicht mehr am Leben. Er starb am 20. Januar 1996 in Darien,
Connecticut.
Gerry Mulligan kommt vom Swing und hat viele Elemente der Jazzgeschichte aufgesogen, sich zu Eigen gemacht. Der Pianist Dave Brubeck, der Mulligan des Öfteren an Stelle von Paul Desmond in sein Quartett integrierte, äußerte sich voller Hochachtung: Wenn man Gerry zuhört ist das, als ob man der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft des Jazz in einer Melodielinie begegnet. Im Unterschied zu den expressiven Bebop-Phrasen des Baritonsaxophonisten Serge Chaloff entwickelte Gerry Mulligan eine neue, entspannte und lineare Spielkonzeption. Selbst der Swing-Veteran Harry Carney, Baritonsaxophonist bei Duke Ellington, äußerte sich begeistert: Jene Leute, die das Instrument für ziemlich schwerfällig und weihevoll hielten, müssen überrascht gewesen sein, weil Gerry ihnen sehr klar zeigte, dass es flexibel und brillant ist. Neben seinem individuell geprägten Spiel offenbarte Gerry Mulligan schon in jungen Jahren ein weiteres Talent: das eines Arrangeurs. Erste Arrangements verkaufte er an eine Radioband, dann an die Bands von Gene Krupa und Claude Thornhill, mit denen er auch als Baritonsaxophonist zu hören war. Bei einem Auftritt der Band von Gene Krupa kam es zu einem Eklat, weil Mulligan und zwar so, dass es das Publikum hören konnte die gelangweilte Routine der Bandmitglieder beklagte und höhere Standards einforderte. 1947 kam Gerry Mulligan nach New York. Er jagte von einer Jam Session zur nächsten. Durch seine Tätigkeit für die Claude Thornhill Band mit Gil Evans bekannt, gelang es ihm, in einen Zirkel aufgenommen zu werden, der sich nicht mehr an den hitzigen Phrasen des Bebop sondern an vergleichsweise kammermusikalischen Klangbildern orientierte. Zentrum des Geschehens war die hinter einer chinesischen Wäscherei gelegene Kellerwohnung des Arrangeurs Gil Evans, die George Russell so beschrieben hat: Es gab da ein großes Bett, eine einzige große Lampe und eine Katze namens Becky. Das Linoleum war brüchig. Nach außen hatte man Zugang zu einem kleinen Hof. Innen war es immer sehr dunkel. Die Stimmung im Raum mutete zeitlos an. Wenn man erst einmal drin war, vergaß man, was außen passierte. Man wusste nicht, ob es Tag, Nacht, Sommer oder Winter war, und das spielte auch keine Rolle. Leute kamen und gingen. Einer war immer da: Gerry Mulligan. Der Arrangeur Gil Evans und der Trompeter Miles Davis stellten eine damals ungewöhnlich besetzte Nonett-Formation mit Tuba und Waldhorn zusammen. Gerry Mulligan spielte Baritonsaxophon und steuerte eigene Kompositionen wie auch Arrangements bei. Am Eröffnungsabend des Engagements im New Yorker Royal Roost ließ Miles Davis ein Plakat vor dem Club anbringen, auf dem man lesen konnte: Arrangements von Gil Evans, Gerry Mulligan und John Lewis. Nie zuvor waren im Jazz Arrangeure auf solche Weise hervorgehoben worden. Viele hielten diese neue Musik, diese schwebenden Klänge zunächst für seltsam. Doch Count Basie kam jeden Abend ins Royal Roost, und auch Charlie Parker mochte die Klänge. Im Verlaufe der Zeit wuchs die Fangemeinde, so dass sich das Plattenlabel Capitol zu einer Studioproduktion entschloss. So entstand das Album, das dazu beitrug, einen neuen Stil im Jazz auszuformulieren und das den programmatischen Titel bekam: Birth Of The Cool. Gerry Mulligan, Ende der 40er-Jahre an den Aufnahmen der Band beteiligt, hat sich 1992 noch einmal der Themen von damals angenommen: Re-Birth Of The Cool. 1952 machte sich Gerry Mulligan auf den Weg in Richtung Westküste. Als Tramp schrieb er Titel wie Walking Shoes. Gemeinsam mit Chet Baker gründete er ein Quartett, das auf ein Harmonieinstrument wie Klavier oder Gitarre verzichtet. Auf diese Weise reaktivierte er die kontrapunktische Kunst des Improvisierens. Während er die Harmonien in die Basslinien auflöste und von dieser andeuten ließ, entfaltete er mit dem zweiten Bläser eine wundervolle Zweistimmigkeit. Mit dieser dezenten, coolen Musik spielte er sich in die Herzen eines großen Publikums. Line For Lyons, Walking Shoes, Jeru und vor allem My Funny Valentine von Gerry Mulligan, in Aufnahmen mit ihm und Chet Baker zählen längst zu den Evergreens des Jazz. Auf die Zusammenarbeit mit Chet Baker folgten Quartettformationen mit Jon Eardly, Bob Brookmeyer und Art Farmer sowie zahlreiche Combo-Variationen, etwa ein Sextett mit Jon Eardly, Bob Brookmeyer und Zoot Sims. Auch als Arrangeur und Big-Band-Leader wusste Gerry Mulligan stets mit delikaten Sounds zu überzeugen. Er legte Wert auf Dynamik und besetzte vergleichsweise sparsam. Wissend, dass weniger mehr bedeuten kann, verkörperte Mulligan eine besondere Kultur und eine eigene Klasse im Jazz der Moderne. Der letzte Eindruck: Der Baritonsaxophonist auf der Bühne der Leipziger Oper zu den Jazztagen 1995: reif und relaxt zugleich. Selbst vor den Abgründen einer zerrütteten Physis imaginierte er die Schwerelosigkeit des Seins. Das hat er nicht vorgespielt, sondern gelebt. Mulligans Leichtfüßigkeit entstand im Kopf. Nach dem Konzert gibt er mir ein letztes, das letzte Interview. Vorher kommt noch ein junger Musiker in die Garderobe und bitte ihn um einen Rat. Mulligan lacht: Spiele immer mit Musikern, die besser sind als du. Auf meine Frage nach seiner musikalischen Konfession sagt er: Das Großartige am Jazz ist die Tradition und die Möglichkeit, diese weiterzuführen. Wenn sich junge Musiker von Mulligan inspirieren lassen, sollte ihnen freilich auch bewusst sein, dass es sinnlos wäre, ihn nachahmen zu wollen. Heldengestalten wie Mulligan gibt es nur als Unikat. Bert Noglik
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