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Jazzzeitung

2002/04  ::: seite 14

 portrait

 

Inhalt 2002/04

standards
Editorial
News
no chaser: Wikinger-Jazz
Musiker-ABC: Bix Beiderbecke
break

titel
Schlagkräftig.
Terri Lyne Carrington

berichte
Leipzig. Das 2. Strings of Fire-Festival
Neuburg. Irvin Mayfield Quintet im Birdland
Nürnberg. Abdullah Ibrahim

festivals
Konkurrenz belebt das Geschäft. Jazzhörer dürfen sich auf einen abwechslungsreichen Festivalmonat freuen
Das „universitäre” Jazzfestival. 28. Freiberger Jazztage
Grossstadt-Jazz in Kempten. Musiker aus München, Hamburg, Frankfurt und anderswo beim Jazz-Frühling

jazz heute
  Mit der Kamera zuhören. Werbemittel oder Psychogramm: Was macht ein Foto zum Jazzfoto?
  Parties mit Film und Worldbeat. Turm Jazzclub in Halles Moritzburg feierte zehnjähriges Bestehen
  Globales und regionale Bindungen. Was das Netz vernetzt und was es zersetzt

portrait / interview
Posaunen-Poet. Glenn Ferris: Ein Portrait
Das Familiäre schwingt mit. Fanny Krug ist mit ihrem Vater Manfred auf Tournee
Walking Shoes. Gerry Mulligan in Momentaufnahmen
Lieder der Leidenschaft. Das Trio Obscur und sein Hang zu Zirkus, Tango und Clownesk-Skurrilem

play back.
Jazzlegenden bei Naxos. Eine Fundgrube für Hörer und Sammler

education
Fortbildung. Kurse
Abgehört 5
Roy Hargrove und Dave Kikoski über „What Is This Thing Called Love“
Keine Antworten liefern. Ellery Eskelin leitet Workshop an Dresdner Musikhochschule

dossier
Käuzchen, Allotria, Domicile. Reminiszenzen ans alte „Jazz-München“

medien/service
Critics Choice
Internet. Link-Tipps
Rezensionen 2002/04
Service-Pack 2002/04 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (550 kb))

 

Walking Shoes

Gerry Mulligan in Momentaufnahmen · Von Bert Noglik

Seinen letzten Auftritt in Europa hatte er zu den Leipziger Jazztagen im September 1995. Hinter der Bühne wirkte er so zerbrechlich, dass man beinahe Angst bekam, er könne im nächsten Moment zusammenbrechen. Doch als er dann gemeinsam mit seiner Gruppe ins Scheinwerferlicht trat, schien sich der von Alter und Krankheit gekennzeichnete Graubart beinahe in einen leichtfüßigen Jüngling zu verwandeln.

Er spielte mit jener Eleganz, die die Schwere seines Instrumentes vergessen ließ. Gerry Mulligan hat dem Baritonsaxophon einen gänzlich eigenen Ton entlockt: geschmeidig, gebunden, scheinbar ein wenig unterkühlt, doch unter der Oberfläche höchst emotional. Als Musiker mit einer bewundernswerten Souveränität und einem nicht versiegen wollenden improvisatorischen Einfallsreichtum wird er unvergesslich bleiben. Auch mit jenen Titeln, die zu seinen Markenzeichen zählten wie „Line For Lyons“ und „Walking Shoes“. Vier Monate nach seinem Konzert zu den Leipziger Jazztagen war Gerry Mulligan nicht mehr am Leben. Er starb am 20. Januar 1996 in Darien, Connecticut.
Gerald Joseph Mulligan, später von seinen Kollegen Gerry oder auch Jeru genannt, wurde am 6. April 1927 in New York geboren und ist in Philadelphia aufgewachsen. Er lernte als Kind Klarinette und Saxophon, dann auch Klavier und Trompete spielen. Gerry Mulligan, der sich später als meisterlicher, mit den raffiniertesten Kompositionstechniken vertrauter Arrangeur profilieren sollte, hat sich das musikalische Handwerk im Wesentlichen selbst beigebracht. Von Anfang an faszinierte ihn das Baritonsaxophon. Nur weil er sich dieses nicht leisten konnte, widmete er sich zunächst der Klarinette. Das mag insofern für seine spätere Entwicklung von Vorteil gewesen sein, als er sogar auf dem Baritonsaxophon später eine klarinettenähnliche Leichtigkeit offenbarte. Schon als Kind wollte er Jazzmusiker werden. „Ich war auf dem Weg zur Schule“, erinnerte er sich, „als ich den Bus der Red Nichols Band vor dem Hotel stehen sah. Es war einer dieser kleinen, alten Greyhoundbusse mit einer überdachten Aussichtsplattform. Auf dem Bus stand mit großen Lettern ‚Red Nichols And His Five Pennies’. Dieses Bild symbolisierte für mich Reisen und Abenteuer. Bereits damals hat es mich gepackt.“ Mit siebzehn verließ Mulligan die elterliche, irisch-katholische Umgebung, um sich auf die Wanderschaft als Musiker zu begeben.

Gerry Mulligan bei den Leipziger Jazztagen 1995. Foto: Matthias Creutziger

Gerry Mulligan kommt vom Swing und hat viele Elemente der Jazzgeschichte aufgesogen, sich zu Eigen gemacht. Der Pianist Dave Brubeck, der Mulligan des Öfteren an Stelle von Paul Desmond in sein Quartett integrierte, äußerte sich voller Hochachtung: „Wenn man Gerry zuhört ist das, als ob man der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft des Jazz in einer Melodielinie begegnet.“ Im Unterschied zu den expressiven Bebop-Phrasen des Baritonsaxophonisten Serge Chaloff entwickelte Gerry Mulligan eine neue, entspannte und lineare Spielkonzeption. Selbst der Swing-Veteran Harry Carney, Baritonsaxophonist bei Duke Ellington, äußerte sich begeistert: „Jene Leute, die das Instrument für ziemlich schwerfällig und weihevoll hielten, müssen überrascht gewesen sein, weil Gerry ihnen sehr klar zeigte, dass es flexibel und brillant ist.“

Neben seinem individuell geprägten Spiel offenbarte Gerry Mulligan schon in jungen Jahren ein weiteres Talent: das eines Arrangeurs. Erste Arrangements verkaufte er an eine Radioband, dann an die Bands von Gene Krupa und Claude Thornhill, mit denen er auch als Baritonsaxophonist zu hören war. Bei einem Auftritt der Band von Gene Krupa kam es zu einem Eklat, weil Mulligan – und zwar so, dass es das Publikum hören konnte – die gelangweilte Routine der Bandmitglieder beklagte und höhere Standards einforderte.

1947 kam Gerry Mulligan nach New York. Er jagte von einer Jam Session zur nächsten. Durch seine Tätigkeit für die Claude Thornhill Band mit Gil Evans bekannt, gelang es ihm, in einen Zirkel aufgenommen zu werden, der sich nicht mehr an den hitzigen Phrasen des Bebop sondern an vergleichsweise kammermusikalischen Klangbildern orientierte. Zentrum des Geschehens war die hinter einer chinesischen Wäscherei gelegene Kellerwohnung des Arrangeurs Gil Evans, die George Russell so beschrieben hat: „Es gab da ein großes Bett, eine einzige große Lampe und eine Katze namens Becky. Das Linoleum war brüchig. Nach außen hatte man Zugang zu einem kleinen Hof. Innen war es immer sehr dunkel. Die Stimmung im Raum mutete zeitlos an. Wenn man erst einmal drin war, vergaß man, was außen passierte. Man wusste nicht, ob es Tag, Nacht, Sommer oder Winter war, und das spielte auch keine Rolle. Leute kamen und gingen. Einer war immer da: Gerry Mulligan.“

Der Arrangeur Gil Evans und der Trompeter Miles Davis stellten eine damals ungewöhnlich besetzte Nonett-Formation mit Tuba und Waldhorn zusammen. Gerry Mulligan spielte Baritonsaxophon und steuerte eigene Kompositionen wie auch Arrangements bei. Am Eröffnungsabend des Engagements im New Yorker „Royal Roost“ ließ Miles Davis ein Plakat vor dem Club anbringen, auf dem man lesen konnte: „Arrangements von Gil Evans, Gerry Mulligan und John Lewis“.

Nie zuvor waren im Jazz Arrangeure auf solche Weise hervorgehoben worden. Viele hielten diese neue Musik, diese schwebenden Klänge zunächst für seltsam. Doch Count Basie kam jeden Abend ins „Royal Roost“, und auch Charlie Parker mochte die Klänge. Im Verlaufe der Zeit wuchs die Fangemeinde, so dass sich das Plattenlabel „Capitol“ zu einer Studioproduktion entschloss. So entstand das Album, das dazu beitrug, einen neuen Stil im Jazz auszuformulieren und das den programmatischen Titel bekam: „Birth Of The Cool“. Gerry Mulligan, Ende der 40er-Jahre an den Aufnahmen der Band beteiligt, hat sich 1992 noch einmal der Themen von damals angenommen: „Re-Birth Of The Cool“.

1952 machte sich Gerry Mulligan auf den Weg in Richtung Westküste. Als Tramp schrieb er Titel wie „Walking Shoes“. Gemeinsam mit Chet Baker gründete er ein Quartett, das auf ein Harmonieinstrument wie Klavier oder Gitarre verzichtet. Auf diese Weise reaktivierte er die kontrapunktische Kunst des Improvisierens. Während er die Harmonien in die Basslinien auflöste und von dieser andeuten ließ, entfaltete er mit dem zweiten Bläser eine wundervolle Zweistimmigkeit. Mit dieser dezenten, coolen Musik spielte er sich in die Herzen eines großen Publikums. „Line For Lyons“, „Walking Shoes“, „Jeru“ und vor allem „My Funny Valentine“ von Gerry Mulligan, in Aufnahmen mit ihm und Chet Baker zählen längst zu den Evergreens des Jazz. Auf die Zusammenarbeit mit Chet Baker folgten Quartettformationen mit Jon Eardly, Bob Brookmeyer und Art Farmer sowie zahlreiche Combo-Variationen, etwa ein Sextett mit Jon Eardly, Bob Brookmeyer und Zoot Sims. Auch als Arrangeur und Big-Band-Leader wusste Gerry Mulligan stets mit delikaten Sounds zu überzeugen. Er legte Wert auf Dynamik und besetzte vergleichsweise sparsam. Wissend, dass weniger mehr bedeuten kann, verkörperte Mulligan eine besondere Kultur und eine eigene Klasse im Jazz der Moderne.

Der letzte Eindruck: Der Baritonsaxophonist auf der Bühne der Leipziger Oper zu den Jazztagen 1995: reif und relaxt zugleich. Selbst vor den Abgründen einer zerrütteten Physis imaginierte er die Schwerelosigkeit des Seins. Das hat er nicht vorgespielt, sondern gelebt. Mulligans Leichtfüßigkeit entstand im Kopf. Nach dem Konzert gibt er mir ein letztes, das letzte Interview. Vorher kommt noch ein junger Musiker in die Garderobe und bitte ihn um einen Rat. Mulligan lacht: „Spiele immer mit Musikern, die besser sind als du.“ Auf meine Frage nach seiner musikalischen Konfession sagt er: „Das Großartige am Jazz ist die Tradition und die Möglichkeit, diese weiterzuführen.“ Wenn sich junge Musiker von Mulligan inspirieren lassen, sollte ihnen freilich auch bewusst sein, dass es sinnlos wäre, ihn nachahmen zu wollen. Heldengestalten wie Mulligan gibt es nur als Unikat.

Bert Noglik

6. April, 23.00 Uhr: MDR KULTUR – Jazz-Zeit: Gerry Mulligan zum 75. Geburtstag

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