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Man ist es gewohnt, Zeitabschnitte in gleichmäßigen Zehnerschritten abzumessen: Die 60er-, die 70er-Jahre und so weiter. Und genauso einfach modelt man den Zehnerjahren entsprechende Stilistiken zu. Im Jazz etwa den 40ern den Bebop, den 50ern den Cool Jazz, den 60ern den Freejazz. Ab den 70er-Jahren bekam insofern der so agierende Jazzhistoriker ein Problem, welches freilich auch früher schon bestand. Als historiografische Methode ist diese Form der Schematisierung zwar unter Umständen verständnisfördernd,
aber es überfordert Geschichte zugleich und unterschlägt eine Pluralität von Musikgeschichte und -entwicklung. Der Historiker Hans Ulrich Gumbrecht meinte jüngst im Merkur, dass die Gegenwart immer breiter werde. Die Zeiten der deutlich zu empfindenden radikalen Einschnitte, die Zeiten der Avantgardebewegungen sei sozusagen abgeklungen. An diese Stelle träte vielmehr ein breiter Strom von sich gegenseitig beeinflussenden aber auch nebeneinander existierenden ästhetischen Entwürfen oder philosophischen Theorien. Was Gumbrecht für die Philosophie konstatiert, lässt sich auch auf den Jazz übertragen. Auf dem gleichen Jazzfest in Berlin war auch das Global-Village-Team um Peter Kowald und Fred Friths französisches Jugendprojekt Que dla Gueule zu Gast. Letztere mit deutlichen Anleihen an der Popmusik, Kowalds Gruppe mit japanischem Butoh-Tanz von Mitsutaka Ishii. Und wenn man die drei größten Jazz-Events in Berlin zusammennimmt, wird dies noch klarer. So war Kowald im Jahr zuvor noch auf dem Festival für frei Improvisierte Musik. Chris Cutler, Robyn Schulkowsky und Vinko Globokar, aber auch Jon Rose und Eugene Chadbourne auf dem Festival für frei improvisierte Musik im Podewil. Während aber Anfang der 90er-Jahre diese Kreuzungsbewegungen aus Jazz, Art-Rock, Neuer Musik, HipHop und Cabaret gelegentlich ein explosives Gemisch ergaben, wirkt im gegenwärtigen Jazz die Muse häufig sehr langweilig geküsst. Trotzdem beschrieb ich damals ein Jazzfest mit der neuen Fadheit im Jazz der 90er-Jahre. Rückblickend scheint
dies zu ungerecht, zumal wenn man dann die entsprechenden Live-Aufnahmen von damals nachhört. Besser als auf
jeder Platte zum Beispiel war Peter Apfelbaum & The Hieroglyphics Ensemble. Doch seine Musik ist ebenso verschwunden
wie Dana Bryants sprechender Jazz, die einen unwiderstehlich in den Sog zog. Aber auch Dana Bryant oder Fred Frith
Anfang der 90er Jahre sind gute Zeugen dafür, dass sich die spannenderen Entwicklungen damals in der Popmusik
abspielten. Beide Musiker hatten keine Berührungsprobleme, weil sie ohnehin nicht unter dem Label Jazz
liefen. Es war vor allem auch kein Zugehen der Jazz- auf die Popmusik, sondern eine Art Schmelztiegel aus Jazz und
Pop, ein Crossover im besten Sinne nicht wie dieser Begriff heute auf den Hund gekommen ist nachdrücklich
natürlich bei Fred Frith. Gerade in Rap und HipHop liefen da viele Fäden zusammen, sei es bei den sehr kurzlebigen
Beatnigs, sei es bei Urban Dance Squad oder Barkmarket; aber auch in der Musikszene des amerikanischen Grunge, ob
bei Nirvana oder den Sonic Youth. Die Fadheit des Jazz wurde damals an der Behandlung des Schlagzeugs respektive des
Basses festgemacht, die häufig mehr Swang, Swung oder Swöng aber partout keinen Swing mehr produzieren
wollte. Anders als in der avancierten Popmusik halten sich im unambitionierten Jazz eingeschliffene Muster, denen
jede musikalische Materialität abgeht. Ein steter Begleiter des Jazz bis heute. Martin Hufner |
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