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Ein griechischer Mythos berichtet vom Schicksal des Narziss‘, der „ertrank“, weil er sich zu „tief“ in sein täuschendes Selbst-Bild auf einer Wasseroberfläche versenkt hatte. Es handelt sich dabei um eine Erzählung aus der Frühgeschichte der Subjektivität, als diese sich gerade aus dem totalitären Naturzwang, dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg) herausgeschält hatte. Die Identität des „Selbst“, so die Lehre, setzt Distanz, den Schmerz des Verlusts einer ursprünglichen Einheit, voraus. Ein Subjekt kann es nur geben, wenn der Abstand gewahrt bleibt, der Reflexion erst ermöglicht. Das „Ich“-Projekt trägt immer schon und für immer die Spuren der Entfremdung und der (Selbst-)Beherrschungstechniken, dem es sich verdankt. Kunst dagegen ist auf durchaus fatale Weise regressiv. Sie verzaubert, weil sie ein verlorenes Glück beschwört, das es nur so lange gab, wie man eins war mit allem. Ein anderer Gründungs-Mythos des modernen Europa zeugt von dieser Verheißung einer vollkommenen Hingabe, die mit der Selbst-Auslöschung, also mit dem Tod des („selbstbewussten“) Subjekts einhergeht: die „Sirenen“-Geschichte aus der homerischen Odyssee, die in Horkheimer/Adornos Analyse in der „Dialektik der Aufklärung“ zum zerrissenen Gründungs-Dokument des modernen Subjekts wird. Odysseus, der sich an den Schiffsmast binden lässt, um den Gesang der Sirenen zu hören, während seine Gefährten mit Wachs in den Ohren, das sie „taub“ macht, rudern, ist unser Stellvertreter. Er führt vor, wie wir mit der Kunst und dem Leben umgehen: ekstatisch-entfesselt und gebunden zugleich. Alle Märchen werden irgendwann vom Stand der Technik eingeholt, von neuen Medien erfüllt. Was früher nur Traum war – Fernsehen und Telefon, das Fliegen-Können und so weiter – ist längst Realität, ja Alltags-Routine. Die avancierteste Kunst erzählt die beiden Ursprungs-Geschichten des Subjekts, die von Narziss und die von den Sirenen, neu. Und nicht zufällig steht dabei „all that jazz“ im Zentrum. Seit längerem kann man schon beobachten, wie in „Live“-Konzerten Musiker mit sich selbst spielen, ohne dabei zu vergehen. Der Wunsch, „Fühlung“ mit dem aufzunehmen, was man von sich gegeben hat, und das, was eben noch war, nicht einfach so vergehen zu lassen, führt nicht in ein kakophonisches Lärmen oder in ein weißes Rauschen, das nur ein Synonym für den Tod ist, sondern bereichert vorhandene Strukturen. Der tönende Narziss, der sich in medialen Aufnahme- und Wiedergabegeräten „in Echtzeit“ rückkoppelt, kann beides: mit sich verschmelzen und die nötige Distanz wahren, ohne die alles in Formlosigkeit untergeht. Dieses Spiel mit sich selbst kann den Konzertbesucher, der mit dem „state of art“ nicht vertraut ist, verstören. Es beraubt ihn aber nicht des sinnlichen Reizes, der sich durch diese mediale „Reflexion“ eher steigert. Mit der nächsten technoiden Steigerung des Narziss-Mythos‘ verhält
es sich ein wenig anders. Kann man denn sein Dasein im „second
life“ verdoppeln und intensivieren, ohne dass das erste Leben dafür
büßt, weil es verdorrt und blutleer wird? Macht die Avataren-Existenz,
die so verlockend wirkt, weil in ihr alles möglich scheint und selbst
die festgelegtesten Identitäten, etwa die der Geschlechter, prima
vista nach Belieben gewechselt werden können, das wirkliche Leben
nicht gespenstisch? So fahl wie die Gesichter der Begeisterten im Licht
der Computer-Bildschirme. Die Medienkunst-Gruppe „Pomodoro Bolzano“,
die ihr Projekt programmatisch „xxXtenxion“ nennt, also eine „Ausdehnung“ des
Lebens verspricht – und vielleicht auch das, was man einst „Bewusstseinserweiterung“ nannte
und sich von psychedelischen Drogen erwartete –, arbeitet an der
Steigerung und „Vernetzung“ unserer ästhetischen und
erotischen Existenz oder zumindest ihres virtuellen Ausdrucks. Oder sollte
man besser sagen: „Abdrucks“? „Anything goes“,
wie es einst schon die Vordenker der Postmoderne, in etwas anderer Bedeutung
freilich, predigten. Helmut Hein |
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