|
|
|
|
Jazzzeitung
2007/01 ::: seite 20
rezensionen
|
|
|
|
|
|
|
|
Kurt Dietrich: Jazz ‘Bones/The World of Jazz Trombone
advance music/Rottenburg, 611 Seiten
Nach seiner vorzüglichen Arbeit über sämtliche Ellington-Posaunisten
(„Duke‘s Bones“, ebenfalls bei advance music erschienen)
liefert uns der amerikanische Posaunist Kurt Dietrich nun ein wahres
,,opus magnum“: die Geschichte seines Instruments im Jazz von den
ersten Anfängen bis zur Gegenwart. Fast 500 (!) Musiker von Bedeutung
werden behandelt: nicht nur stilbildende, sondern auch stilformende,
Satzbläser ebenso wie Solisten. Das Schöne – eigentlich
Selbstverständliche – dabei ist, dass der Autor über
ein subtiles Verständnis für alle Stile des Jazz verfügt
und daher allen gerecht wird: Kid Dry ebenso wie Albert Mangelsdorff,
Miff Mole ebenso wie Roswell Rudd, Lawrence Brown ebenso wie Ray Anderson.
Und wer da glaubt, vor J. J. Johnson habe es eigentlich nur einen wichtigen
Posaunisten gegeben, nämlich Jack Teagarden, der wird eines Besseren
belehrt: Nicht weniger als 87 Musiker nennt und bespricht der Autor für
die stilistischen Entwicklungen vor dem Bebop.
Das Buch, anschaulich und
präzise in der Diktion, ist eine wahre
Fundgrube. Nach jedem der 18 Kapitel gibt es eine Diskographie und eine
Bibliographie; alle Zitate werden belegt, sogar die Herkunft der Informationen
angegeben – kurz, diese Arbeit vermittelt den Eindruck eines
Höchstmaßes an Zuverlässigkeit. Leider gibt es keine
Transkriptionen, aber das wäre wohl zu viel verlangt. Wer in Zukunft über
Jazzposaunisten schreiben will, sollte das Buch gelesen haben. Ein Sonderlob
dem deutschen Verlag für Veröffentlichung und Aufmachung.
Barry Kernfeld: The Story of Fake Books/Bootlegging Songs to Musicians
The Scarecrow Press, Inc., Lanham/USA, 153 Seiten
Fake Books (von „to fake“ – improvisieren,
erfinden) sind Themensammlungen, die jeweils nur die Melodien und eine
Harmonisierung
in Akkordsymbolen enthalten; die voicings muss man selbst auf dem Klavier
oder auf der Gitarre zusammensuchen. Sie werden von improvisierenden
Musikern als unentbehrliche Arbeitsgrundlage benötigt. Themen sind
für sie der Ausgangspunkt für eigene Ideen, eine Art Initialzündung,
wobei schon bei der Themenvorstellung alle Komponenten (Rhythmus, Melodie,
Akkorde) oft weitgehende spontane Veränderungen erfahren können.
Leider waren solche Themensammlungen lange Zeit nur illegal veröffentlicht
worden, da die betreffenden Verlage nicht zu einer legalen Veröffentlichung
in der für die Musiker brauchbaren Form bereit waren (was sie, wie
sie wohl inzwischen begriffen haben, viel Geld kostete); zudem waren
viele interessante Themen zumindest die ersten Jahre, nachdem sie erstmals öffentlich
gespielt oder auf Platte erschienen waren, überhaupt nicht verlegt.
Es blieb also nur der Erwerb eines illegalen Fake Books übrig, denn
das Abschreiben eines Themas von einer Platte ist meist schwierig und
zeitraubend; zudem muss man die Platte erst einmal haben.
Das erste legale
Fake Book kam 1963 in den USA heraus. Es enthielt allerdings nur circa
190 Stücke, im Gegensatz zu den illegalen Sammlungen mit
meist rund 1.000 Titeln (das erste illegale Fake Book war 1949 erschienen
unter der Bezeichnung „Song Book“, da es nur Songs enthielt).
Damit waren aber die illegalen Fake Books nicht überflüssig
geworden; vor allem der ständig wachsende Fundus von speziellen
Jazzthemen war kaum legal zugänglich. Kein Wunder, dass das Mitte
der 70er Jahre auftauchende „Real Book“ ein Riesenerfolg
wurde, nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen der übersichtlichen
Gestaltung und der klaren Notenschrift (falls man nicht einen der schlecht
lesbaren Nachdrucke erwischt hatte).
Das „Real Book“ wurde von zwei Studenten des Berklee College
of Music in Boston zusammengestellt. Steve Swallow, der damals dort unterrichtete,
gab ihnen einige seiner eigenen, noch unveröffentlichten Stücke
und überzeugte auch Carla Bley, Steve Kuhn und Pat Metheny, das
Gleiche zu tun. Auch Gary Burton steuerte einige seiner Nummern bei.
Ein Teil des „Real Book“ ist somit legal! Steve Swallows
richtige Überlegung war, dass sein Verzicht auf Drucktantiemen mit
Sicherheit dadurch kompensiert werden würde, dass Musiker, die seine
Stücke durch das „Real Book“ kennenlernten, sie aufnehmen
und ihm dadurch Aufnahmetantiemen verschaffen würden. Übertroffen
wurde das „Real Book“ schließlich durch die verschiedenen
legalen Themenbücher, die Chuck Sher herausbrachte: 1983 mit „The
World‘s Greatest Fake Book“ das erste, dem später „The
New Real Book“ (Vol. 1–3) und einige weitere folgten. Auch
das alte „Real Book“ gibt es inzwischen in einer legalen
Ausgabe.
Barry Kernfeld, Herausgeber von „The New Grove Dictionary of Jazz“,
hat dieses interessante Thema mit Akribie bearbeitet. Spannend zu lesen.
Thomas Brothers: Louis Armstrong‘s New Orleans
W.W. Norton & Co./New York, 386 Seiten
Unentbehrliche Lektüre für alle, die sich für die Frühgeschichte
des New-Orleans-Jazz interessieren. Der Autor, Herausgeber der bis 1999
unveröffentlichten Aufzeichnungen Louis Armstrongs (Louis Armstrong:
In his own words), fasst ausführlich zusammen, was man in Büchern,
Aufsätzen und Interviews über das gesellschaftliche und insbesondere
das musikalische Leben in New Orleans bis Anfang der 20er Jahre finden
kann.
Seine Hauptthese ist, dass Louis Armstrong durch die vielfältigen
Musikformen um ihn herum bis zu seiner Abreise nach Chicago 1922 (gerade
21 Jahre) geworden viel mehr beeinflusst wurde, als bisher angenommen.
Zwei Faktoren sind besonders bemerkenswert. Erstens der wohl sehr starke
Einfluss der Musik der schwarzen Kirchen auf die weltliche Musik („Sometimes
a brass band performed right inside the church to augment the congregational
singing“, S. 36). Zweitens die Rolle des Blues bei der Entstehung
des New Orleans Jazz. Es gab wohl schon Anfang des 20. Jahrhunderts oder
noch früher, durch den Kirchengesang inspiriert, eine „ausgeflippte“ Art,
starke Gefühle auf Blasinstrumenten durch off–pitches, shout,
growl und anderes mehr in Ragtimes und anderer Musik auszudrücken
(„freak music“). Könnte es sein, dass schließlich
durch Verdichtung auf ein einfaches 12-taktiges Akkordgerüst der
eigentliche Blues entstand? Wir müssen dann wohl von der Vorstellung
Abschied nehmen, die erste Form von Blues sei der im Mississippi-Delta
zu findende Country Blues (Gitarren-Blues) gewesen. Es wäre an der
Zeit, jetzt einmal die Frühgeschichte des Blues unter voller Einbeziehung
des Blues im Jazz darzustellen.
Für das Verständnis des Künstlers wie des Menschen Louis
Armstrong (wenn man das überhaupt so trennen kann) ist diese Arbeit
sehr wertvoll.
Joe Viera |