Anzeige |
|
|
Anzeige |
|
Als der Tenorsaxophonist Stan Getz am 25. Februar 1991 die BMG Studios in New York City betrat, war er ein todkranker Mann. Die Ärzte hatten seinem nicht zuletzt durch die Folgen der Sucht geschädigten Körper bereits vor vier Jahren prophezeit, dass er nur noch sechs Monate zu leben Jahr habe. Dies war das Jahr Vier, sein Jahr Vier nach diesem in Gestalt eines medizinischen Bulletins an die Wand gehefteten Menetekel. Getz hatte schon die Koffer gepackt, um mit dem Pianisten Kenny Barron nach Kopenhagen zu fliegen und noch einmal in jenem Klub zu spielen, der ihm Ende der fünfziger Jahre zu einem Fluchtpunkt, gar zu einer vorübergehenden Heimat geworden war: das „Café Montmatre“ in Kopenhagen.
Und nun kam Abbey Lincoln und wollte unbedingt ihn bei den Aufnahmen ihres Albums „You Gotta Pay The Band“ dabei haben. Die Sängerin erstrahlte für Stan Getz wie ein ferner, fremder dunkler Kontinent. Abbey, die gemeinsam mit ihrem früheren Ehemann, dem Schlagzeuger Max Roach, für die schwarze Bürgerrechtsbewegung ein jazzmusikalisches Manifest geschaffen hatte, die sich einmischte in den Kampf ihrer Zeitgenossen, die sich eher mit widerständiger Avantgarde assoziierte als mit der Schönheit des Klanges – Abbey Lincoln hatte ihren Produzenten Jean-Philippe Allard gebeten, ausgerechnet ihn, Stan Getz, den Belcanto-Spezialisten unter den Jazz-Saxophonisten, für diese Produktion anzufragen. Stan Getz war der andere Planet – der scheinbar weltfremde Ästhet, der Exponent des Cool Jazz, der Perfektionist und Erfolgsstratege, der entrückte Schöngeist, der Bewohner des Elfenbeinturms. Mit „Girl From Ipanema“ hatte er diesen zwar einst verlassen, aber nur um ein wenig mit der Brandung der Copacabana zu spielen und einen entspannten Flirt mit dem Bossa nova zu wagen. In der Stimme von João Gilberto fand er Entsprechung zu seinen stets gesanglich orientierten Saxophonlinien. Girl of the CoolDoch der Welt-Hit entstand, als sie Astrud Gilberto einbezogen, die Frau von João, die seinerzeit scheinbar gelangweilt im Studio herumsaß, aber nur auf den Augenblick wartete, hinzugebeten zu werden, um ebenso gelangweilt wie sie zuschaute, zu singen: „The Girl From Ipanema“. Die Raffinesse dieser unendlichen Geschichte in Gestalt eines Dauerbrenners und Verkaufserfolges bestand in ihrer Gelassenheit, in ihrem Jazzfeeling unter der brasilianisch-popmusikalischen Oberfläche, vor allem wohl im Gestus des Verlangens hinter einer Maske aus Desinteressiertheit. Und nun also betrat Getz das Terrain von Abbey Lincoln, die – verglichen mit der schlanken Brasilianerin von 1963 – auf ihn wie eine stolze Patronin des afroamerikanischen Jazzgesanges wirkte. Stan Getz, beständig von sich überzeugt auftretend, doch unablässig von Selbstzweifeln gepeinigt, stand anfangs, etwas verlegen, beinahe unbeholfen im Studio herum. Und auch Abbey Lincoln brauchte wohl eine Weile des Warmwerdens beim Agieren im Spannungsfeld eines ungleichen Paares. Stan Getz griff Abbeys Melodien auf dem Saxophon auf, aber er wagte es zunächst nicht, die Stimme der Sängerin zu umspielen. Abbey brachte eigene Titel wie „Bird Alone“ mit. Und Stan Getz sah sich auf einmal als Solitär dahinfliegen über all die durchlebten Abgründe der Lust, der Verzweiflung, der Todessehnsucht. Für Momente war er wieder der kleine Junge, der als Sohn russisch-russischer Einwanderer von den anderen gehänselt wurde und der sich in eine eigene Welt flüchtete, in die der Musik. Da segelt er allein, ermutigt von der untrüglich swingenden Band mit Hank Jones am Klavier, Charlie Haden am Kontrabass und Mark Johnson am Schlagzeug. Er fliegt, wie einst als Sechzehnjähriger bei seinem ersten Solo in der Band von Jack Teagarden oder wie später, als er über den modernen Streicherklängen des Orchesters von Eddie Sauter in den Jazzhimmel abhob. Doch Abbey Lincoln überlässt den vereinsamten Stan Getz bei dieser Plattensession nicht sich selbst. Bereits mit „I’m In Love“ holt sie ihn auf den Boden der Zweisamkeit, beginnt sie den Dialog. Die Geschichte von Saxophon und Gesang ist die einer Liebesbeziehung. Kaum einer der großen Saxophonisten im Jazz hat je etwas anderes behauptet, als der menschlichen Stimme so nahe wie möglich kommen zu wollen. Und aus der Inspiration, die Sängerinnen und Sänger durch das Spiel von Instrumentalisten erfahren haben, ist nicht nur der Scat-Gesang, sondern auch eine Vielzahl subtiler Textinterpretationen erwachsen. Für einen Saxophonisten wie Lester Young erschien es unabdingbar, die Lyrics, also die Songtexte der Melodien, zu kennen, über die er improvisierte. Billie Holiday fasste es in einem Satz zusammen: „Lester singt mit seinem Horn.“ Spätestens hier schließt sich ein Kreis, denn Abbey Lincoln zählt zu den großen Bewunderern von Billie Holiday und Lester Young war für Stan Getz Zeit seines Lebens so etwas wie ein musikalisches Rollenmodell. Den Unterschied zwischen den beiden Saxophonisten hat Hans-Jürgen Schaal in seiner Getz-Biographie so umrissen: „Wo Lester Young Emotionen zur Schau stellt, stellt Stan Getz Emotionalität nur dar.“ Der eine gleicht also eher dem naturwüchsig expressiven Rhapsoden, der andere der sich selbst inszenierenden Kunstfigur. Doch spätestens in der letzten Phase seines Schaffens, in der Getz gegen sein Ableben anspielt, verändern sich die Vorzeichen. Wenn Abbey „You Gotta Pay The Band“ singt und Stan zum Solo ansetzt, lässt er uns mitwissen, dass es hier nicht um das leidige Thema von Künstlergagen geht, sondern darum, dass man im Leben für alles bezahlen muss. „Up Jumped Spring“ wird zum Ausdruck der Hoffnung auf einen neuen Frühling, den letzten im Leben des im Februar 1927 in Philadelphia geborenen und im Juni 1991 in Los Angeles verstorbenen Stanley Gayetzky. „You Gotta Pay The Band“ gleicht allem anderen als jenem harmlos erotischen Cocktailstündchen mit dem Girl von Ipanema. Zu den Songs, die Abbey Lincoln für die Aufnahmesession geschrieben hat, zählt auch „When I’m Called Home“, ein melancholisches Halleluja, bei dem Stan Getz an jenen Lester Young erinnert, der mit Tränen in den Augen den Gesang der Billie Holiday begleitete. Ein Buch wolle sie mitbringen, heißt es im Text von Abbey Lincoln, ein Buch, das von all den Troubles des Lebens in einer Welt berichtet, die nie ihre eigene gewesen sei. Hier nun trifft sie sich mit Stan Getz in einer Kunst, in der es nicht mehr nur um den schönen Schein, sondern um die emotionale Konstruktion einer Gegenwelt zu all den Irrwegen der Seele wie auch zu den erfahrenen Demütigungen und Ungerechtigkeiten geht und in der Stilbegriffe gegenstandslos werden. Stan Getz, kaum mehr in der Lage zu gehen – er drängte darauf, die Aufnahmen so schnell wie möglich in den Kasten zu bekommen – hebt mit seinem sanften Ton auf dem Tenorsaxophon noch einmal ab in den Zustand der Schwerelosigkeit. „Es sind immer so viele Leute, die zuhören“, hatte er sich einmal über den Stress des Musikerlebens beklagt. Hier nun im Studio unter dem Schutz von Abbey Lincoln taucht er ganz ein in einen imaginären Raum, so wie in jenem Hinterzimmer der elterlichen Wohnung in der Bronx, in dem er als Zwölfjähriger Mozart auf dem Kontrabass intonierte, immer danach strebend, den Klang noch vollkommener zu gestalten. Bert Noglik
|
|