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Diese Frage kann sicher am leichtesten der Purist beantworten, der nur das Genre, dem sein ganzes Herz gilt, gelten lässt. Für den rechten Swing-Aficionado ist ja schon Bebop eine Verirrung beziehungsweise ein Graus. Puristen überleben derzeit aber nur in amateuristischen Nischen, gewissermaßen als die selbstbewussten Sonntagsmaler des Jazz; oder, spannender und fataler, in Gestalt unheimlicher Orthodoxien wie bei Wynton Marsalis. Der stolze Marsalis traktiert selbst den Schmutz der Straße so rechtgläubig und kompetent bis Jazz vom puren Leben (dem „Augenblick“) zu dessen glattem Gegenteil, dem klassischen Modell für alle Zeiten und Gelegenheiten mutiert. Aus der Vitalität der Ränder wird akademische Reflexion, die sich damit brüstet, dass sie nicht „sabbert“. Ansonsten aber ist Jazz erfolgreich, präsent vor allem als Heterodoxie. Nicht überall freilich, wo Jazz draufsteht, ist auch Jazz drin. Und es verblüfft, dass ausgerechnet der Außenseiter, das „Kassengift“ namens Jazz meist eher zweitklassigen Pop-, Folk- oder Ethno-Diven zu einem unerwarteten und fast immer auch unverdienten kommerziellen Erfolg verhilft. Bestes beziehungsweise schlechtestes, offenbar sinnverwirrendes Beispiel: Rebekka Bakken. Sie füllt große Autohäuser (Regensburg) genauso wie Prinzregententheater (München) und Meistersingerhallen (Nürnberg). Eine Frauenzeitschrift wie „Brigitte“ gerät über diesen routinierten Rumpel-Pop, den sie für Jazz hält, in Ekstase („Einfach nur schön“), und hält es ohne weiteres für ein Zeichen höchster Kunst, wenn der wabernde Sound immer wieder von Bakkens viel gerühmtem und garantiert sinnfreien, weil „gescatteten“ Drei-Oktaven-Druiden-Gesang unterbrochen wird, der, auch das gehört dazu, das Publikum ob seiner Virtuosität verzückt und von ferne an die Endlos-Indianer-Squaw-Lamentationen einer Buffy St. Marie aus den 1960er und 70er Jahren erinnert, nur dass eben die Rohheit, das „Schicksal“ fehlt. Dieser vollmundige Diven-Jazz made in Scandinavia mag die eine oder andere Konzern-Bilanz auffrischen, die Reformulierung des Genres verdirbt er. „Rettung“ kommt heute eher von alten Madamen wie Shirley Bassey (Gratulation zum 70.), die immer schon auf eine wüstere, subversivere Weise heterodox war: eine, die sich alle Lieder aller Szenen und Bekenntnisse anverwandelte, sich um Ursprungsbedeutungen wenig scherte (wie bei der Gay-Hymne „I am what I am“) und es gerade dadurch schaffte, zur Ikone der Homosexuellen-Clubs und -Communities zu werden. Sekundäre Authentizität scheint überhaupt ein gutes Stichwort zu sein, wenn es darum geht, was Jazz heute ist beziehungsweise sein könnte; also gewissermaßen Gewinnung eines (neuen) Ursprungs durch mehrfaches „Überschreiben“. So sind manche House- und New Electronica-Tracks neuerdings unverschämt „jazzy“, weil ihr Herzstück ein James Brown-Sample ist. James Brown erfand einst, zur „Hirnschwitzer“-Hoch-Zeit des Free Jazz Soul und Funk vitalistisch neu, indem er, diese stampfende und röchelnde „Sex Machine“ in Person, beim alten Jazz und Blues in die Schule ging. Sekundäre Authentizität bedeutet immer auch Transfer. Und Transfer ist das Gegenteil von Reinheit. Man bewahrt den Jazz nicht, wenn man ihn in Bernstein fasst (wie Wynton Marsalis, obwohl auch das, in dieser Radikalität, schon wieder eine extreme Möglichkeit darstellt, an der andere weiterarbeiten können; Material für Transfers wider die explizite Autor-Intention). Was ist Jazz? Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man keine Berührungsängste hat; wenn man nicht auf die große Geste aus ist, sondern auf die „Arbeit“ kleinster Fragmente in fremden Umgebungen. Der beste Jazz ist heute dort, wo Musik aller Art neu entsteht, als authentischer Bastard. Helmut Hein |
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