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Es scheint, als rissen zur Zeit die letzten Fäden zur Swing-Ära ab. Im November und Dezember 2006 erlebten wir, wie jene Sängerinnen aus der Swing-Ära, die noch unter uns weilten, eine nach der anderen von uns gingen. Allein mit den Gesangskünstlerinnen unter ihnen ließe sich ein feiner himmlischer Chor bilden. Mit dem Pianisten, Bandleader und Sänger Jay McShann – Charlie Parker machte mit seiner Band seine ersten Aufnahmen – starb das letzte Urgestein des Kansas City Swing. Martha Tilton, die bei Benny Goodman mit „And The Angels Sing“ berühmt wurde, starb am 8. Dezember, Georgia Gibbs und Dolores O’Neill – beide machten sich bei Artie Shaw einen Namen – folgten ihr kurz darauf ins Grab.
Anita O’Day war mit Abstand die bedeutendste unter ihnen. Sie gilt
zu Recht als Leitstern einer ganzen Generation weißer Sängerinnen,
darunter June Chrisy und Chris Connor, die wie sie bei Stan Kenton sangen.
Doch Anita O’Day war weit mehr. Die einzige Sängerin der 40er
bis 60er Jahre, des goldenen Zeitalters des Jazzgesangs, die man in einem
Atemzug mit den großen schwarzen Diven – Ella Fitzgerald,
Sarah Vaughan, Billie Holiday, Dinah Washington, Carmen McRae – nennen
kann. Mit 12 verließ sie ihr Zuhause. Bei den armen Amerikanern zur Zeit der Wirtschaftskrise waren jene schrecklichen Tanz-Marathons beliebt. Man tanzte tagelang buchstäblich bis zum Umfallen und hoffte dabei auf die ausgesetzten Preise, mit denen man endlich zu Geld kommen konnte. Etwas Ähnliches waren die 24-stündigen Walkathons. Hier versuchte die 14-jährige Anita ihr Glück. Ja, sie machte es zu ihrem Beruf, wurde sie doch während dieser Tourniere sieben mal am Tag verpflegt. Daneben begann sie zu singen und zu tanzen. Nach 2 Jahren dieses Lebens, von denen sie allein 97 Tage ausschließlich „walkte“, wurde sie gezwungen nach Hause zurück zu kehren und die Schule abzuschließen. Nun ging sie tagsüber in Chicago zur Schule und sang nachts. Ihren Namen änderte Anita Belle Colton in den Künstlernamen Anita O’Day. Mit 19 trat sie professionell als Sängerin mit der Band des Pianisten Max Miller im Off-Beat Club auf und stieg couragiert bei Auftritten von Größen wie Stuff Smith ein. Mit 21 kam der große Durchbruch. Benny Goodman hatte sie nach einem Vorsingen abgelehnt, weil sie sich nicht streng genug an die geschriebenen Melodien hielt. (Was ihn 1959 nicht davon abhielt, mit der längst berühmten Dame auf Tournee zu gehen!) Doch sein ehemaliger Schlagzeuger Gene Krupa erkannte ihr Jazz-Potential und versprach ihr einen Job, falls er einmal keine Sängerin mehr hätte. Als dies der Fall war, kam ihre große Stunde. Als sie 1941 bei Gene Krupa anfing, sollte sie zunächst das Repertoire ihrer Vorgängerin Irene Day übernehmen. Doch nur einer von Days Songs lag O’Day: Georgia On My Mind. Bei ihrem ersten Auftritt mit Krupa, am 14. Februar in der Universität von Michigan, hatte sie damit so großen Erfolg, daß sie es dreimal hintereinander singen mußte. Krupa engagierte einige Monate nach Anita den großen Swing-Trompeter Roy Eldridge. Dieses Engagement erregte damals Aufsehen. Weniger deshalb, weil „Little Jazz“ so gut und als einer der besten Jazztrompeter aller Zeiten bereits berühmt war, sondern, weil ein schwarzer Musiker in einer weißen Band damals noch ungewöhnlich war. Mit Roy Eldridge, der auch sehr gut sang, nahm Anita O’Day eine Reihe von Duetten auf, allen voran „Let Me Off Uptown“, die Gene Krupas Band, die zuvor in der Popularität weit hinter den Goodmans und Shaws rangierte, mit einem Schlag durchsetzten. Anita und Roy, auf der Bühne und im Schallplattenstudio scheinbar ein Herz und eine Seele, waren ein unschlagbares Team, das viele Hits erzielte, doch sie stritten so viel miteinander, dass sie damit auch die Band in Mitleidenschaft zogen. Darin liegt die Ursache, dass Anita schon 1942 die Band verließ. Das Fachmagazin Down Beat hatte Anita O’Day schon 1941 zum New Star Of The Year gekürt. Anita O’Day erinnerte sich an Krupa folgendermaßen: „Gene war magnetisch wie ein Film-Star, voll wilder Überschwänglichkeit. Sein rabenschwarzes Haar, seine blitzenden braunen Augen und sein schwarzer Anzug kontrastierten zu den schneeweißen Trommeln, die ihn umgaben. Seine Kaugummi-kauende Gesichtsgymnastik, das Ins-Publikum-Werfen gebrochener Trommelstöcke und allgemeine Überladenheit ergänzten optisch den Krupa-Sound … Ich werde nie sein Aussehen und seinen Sound vergessen, wenn Schweiß auf seiner Stirn auftauchte und das Gesicht herunterrann und von seiner Nasenspitze heruntertropfte, seine fliegenden Haare benetzte und durch sein Hemd kam, während seine Arme in zwanzig verschiedene Richtungen droschen, um verschiedene musikalische Klänge zu erzeugen.“ Bei Krupa, der schwärmte, dass sie wie ein Jazzinstrument singen konnte, brachte Anita frischen Wind in die Band. Zunächst einmal unterschied sich ihr Gesang völlig von dem früherer Bandsängerinnen. Sie trug anfangs bewußt keine Glamour-Kleider, sondern kleidete sich burschikos in eine Art Uniform, wie sie die Musiker trugen. Sie wollte nicht als Sängerin behandelt werden (die damals oft eher als Blickfang, denn als Ohrenschmaus wahrgenommen wurden), sondern als Musiker. Sie sei eine „wild cat“ gewesen, hat Gene Krupa einmal bekannt. Wie wild, das musste auch der nächste Bandleader erfahren. Nur vier Wochen blieb sie bei Woody Herman, dem sie sich nach ihrer Zeit bei Gene Krupa in Los Angeles angeschlossen hatte. Sie verließ ihn, als Herman mit der Band auf Tournee ging. Der im Stich gelassene Herman war darüber noch Jahre später sauer, dass er für die Tour ohne Sängerin dastand. 1944 bis 1945 sang Anita O’Day bei Stan Kenton. Hier landete sie gleich mit „And Her Tears Flowed Like Wine“ den ersten großen Kenton-Hit. Anita O’Day kehrte 1945 zu Gene Krupa zurück, bei dem sie unter anderem „Opus One“ sang. 1945 wurde Anita O’Day vom Down Beat zur Top Girl Band Vocalist gewählt und 22 Jazzkritiker wählten sie zum Outstanding New Star bei einer Umfrage der Zeitschrift Esquire. Die Erfolge bei Krupa und Kenton ließen sie nun eine Solo-Karriere anstreben, die fortan viele Aufs und Abs hatte. 1947 kam sie wegen Marihuana-Besitzes ins Gefängnis. 1953 wurde sie wegen Heroin-Besitzes verhaftet. Laut ihrer Darstellung hatte es ihr ein anderer Musiker untergejubelt. Ihre Konsequenz daraus war: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Als sie entlassen wurde, fing sie wirklich damit an. Leider war sie, wie so viele Interpreten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Irrtum befangen, dass man mit Drogen bessere Musik machen könne. Anita O’Day war die erste Sängerin, die für Verve Aufnahmen machte, vor Ella Fitzgerald und Billie Holiday. Die Verve-Aufnahmen der Jahre 1952 bis 1962 sind, zumindest in diskografischer Hinsicht, Höhepunkt ihres Schaffens in der Zeit ihrer Selbständigkeit. Es sind Juwelen darunter wie „Honeysuckle Rose“ aus „Anita“. Eine Aufnahme, die kein Geringerer als Andy Razaf, der den Text geschrieben hatte, für die beste hielt und somit über jene des Komponisten Fats Waller stellte. Dabei hatte Norman Granz bei diesem 1955er Album dem Arrangeur Buddy Bregman noch die Anweisung gegeben, so wenig Geld wie möglich auszugeben. Die Sängerin verkaufe sich nicht recht. Danach produzierte Granz einen Klassiker nach dem anderen mit ihr. Etwa das Album „Anita Sings The Most“, bei dem sie 1957 vom Oscar Peterson Quartett begleitet wurde. Gerade dieses Album zeigt aber, wie selbstkritisch sie war. Dazu meinte sie: „Songs sind für mich wie Pferderennen … Das einzige, das ich wirklich verlor, war mit Oscar Peterson. Ich habe hintereinander zwölf Stücke verloren.“ Anita O’Day konnte sehr schnell singen, dabei swingen und – Belegtheit hin oder her – eine klare Stimme bewahren. Sie artikulierte so gut, dass sie stets verständlich blieb. Mit ihren harmonischen Kenntnissen konnte sie sich scattend faszinierende Schlagabtäusche mit Musikern liefern. Im Jahr darauf folgte die weltberühmt gewordene Demonstration dieser Fähigkeiten auf dem Jazzfestival in Newport, das durch den Dokumentarfilm „Jazz an einem Sommerabend“ in bleibender Erinnerung fast aller Jazzfreunde ist. Die Dame mit dem großen eleganten Hut und den weißen Handschuhen – das war seither das neue, feminine Image von Anita O’Day, das auch so gut zu ihrem kessen, heiteren Singstil paßte. Wie sie in Newport „Sweet Georgia Brown“ und „Tea For Two“ sang, so geschwind und gewitzt, mit so viel Spaß am Spiel mit der time, wurde viel kopiert und nie erreicht. Was sie da mit ihrer gut eingespielten Band konnte, das konnte sie aber auch mit einer völlig fremden Begleitgruppe. Sie ging nicht auf Nummer sicher, sondern immer auf volles Risiko – auch als Mensch. 1966 wäre es mit Anita O’Day fast aus gewesen, denn da fand man sie mit einer Überdosis Heroin und Herzstillstand in einer Damentoilette – eine Szene, mit der ihre Autobiografie beginnt. 1968 wurde sie ihre Heroinsucht los. Anita O’Day war zwar die Meisterin des Flotten und Frechen, doch da sie weiß Gott die Schattenseiten des Lebens kannte, wäre es verfehlt, sie auf Swing, der leicht, locker und kess daherkam, zu reduzieren. “All The Sad Young Men” zeigt 1961 eine nachdenklichere Anita O’Day, wie überhaupt verschiedenste Produktionen im Laufe ihrer Karriere unterschiedlichste Facetten von Sprechgesang bis Latin zeigen, ohne dass sich der Gesamteindruck dadurch ändert. 1983 veröffentlichte sie ihre Autobiografie „High Times, Hard
Times“. Als sie 1996, 76-jährig, über einen Hund stürzte – sie
hatte keine Kinder, zog aber viele Hunde auf – brach sie sich einen
Arm. Eine Serie von Krankheiten und Operationen begann. Sie musste einen
Rollstuhl verwenden. Trotzdem schaffte sie es, wieder zu gehen und trat
noch bis zum vergangenen Jahr auf. 2005 nahm sie auch noch ein Album
mit dem passenden Titel „Indestructible“ auf. In dieser Zeit
wurde auch ein Dokumentarfilm über sie gedreht. Marcus Woelfle |
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