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Jazzzeitung
2005/04 ::: seite 13-14
portrait
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Er ist ein Großer auf der Szene, und dennoch steht er selten im
Rampenlicht – der New Yorker Perkussionist, Komponist und Mallet-Spieler
Kevin Norton. Obwohl Norton sich selbst wesentlich als Live-Musiker sieht,
ist allein schon sein auf CD dokumentiertes Werk beeindruckend und spricht
mit einer stilistischen Vielfalt für die Universalität und künstlerische
Größe des New Yorkers. Norton trommelte auf zahllosen Scheiben
von Anthony Braxton, war bei David Krakauer’s Klezmer Madness dabei,
prägte die Einspielungen der Musik von Phillip Johnston’s Big
Trouble, insbesondere dessen berühmte Stummfilmvertonung „The
Unknown“, beteiligte sich an Fred Friths exzellentem Projekt „Step
Across the Border“, gehörte zum Team Marie McAuliffes, das
die Burt-Bacharach-Interpretationen in der Tzadik-Reihe „Great Jewish
Music“ realisierte – ganz zu schweigen von gegenwärtig
zehn CDs, die Kevin Norton mit eigenen Ensembles und mit eigener Musik
eingespielt hat. Mathias Bäumel befragte den Musiker.
Jazzzeitung: Deine musikalische Biografie scheint etwas
ungewöhnlich zu sein. 1984 hast Du gemeinsam mit Milt Hinton und
anderen die Platte „The Judge’s Decision“ aufgenommen,
eine eher swingende, traditionelle Mainstream-Sache. Und danach, um auf
Deine eigenen Projekte zu sprechen zu kommen, gingst Du mehr in die freie
Richtung – warum? Womit hast Du Dich musikalisch zwischen der Hinton-Platte
und später Deinen eigenen freieren Sachen beschäftigt?
Kevin Norton: Jein – „The Judge’s Decision“
ist eine swingende Aufnahme – aber traditionell? Lass mich das von
einer anderen Perspektive her erklären. Auf „The Judge’s
Decision“ spielen wir – zum Beispiel – „Diga,
Diga Do“, ein Stück, das normalerweise als ein altes Dixieland-Stück
gilt. Es war nun Milts Idee, es durch John Coltrane und McCoy Tyner gewissermaßen
zu filtern und einige ihrer Klangsignaturen zu nutzen, McCoys offene Quinten
und Quarten, Coltranes Akkordwechsel à la „Giant Steps“.
Milt war immer an Neuerungen interessiert! Tatsache ist, dass er George
Russell ermutigte, neue Stücke zu komponieren – und deswegen
kann man auch Milt auf vielen frühen und mittleren Aufnahmen Russells
finden. Klar, es sieht so aus, als hätte ich mich von den Milt-Hinton-Aufnahmen
hin zu einem Avantgarde-Musiker entwickelt, aber Diskografien erzählen
nicht die ganze Geschichte eines Musikers, der vor allem viel live spielt.
So studierte ich zwei Jahre an der Manhattan School of Music, um meinen
Masterabschluss zu machen – noch bevor es dort einen Jazz-Studiengang
gab. Ich verbrachte unheimlich viel Zeit mit der Arbeit an zeitgenössischer
„ernster“ Musik, und da speziell mit Vibraphon und Marimbaphon.
Ich übte wirklich viel. Auch wenn ich aus der Musikschule nach Hause
kam, hatte ich das Verlangen, mich an das Schlagzeug zu setzen und weiter
zu machen. Und ich spielte mit jedem, der mich wollte und brauchte. Ich
spielte in schnell zusammengelesenen Orchestern, machte Bar- und Klub-Gigs
mit Blues-, Jazz- und sogar Rockbands. Ich muss einfach sagen, dass es
die Szene der Lower East Side von New York war, die mich in all meiner
Unvollkommenheit angenommen hat. Über eine Band namens Zozobra lernte
ich Fred Frith kennen. So spielte ich dann etwas mehr als ein Jahr gemeinsam
mit Fred und kam in Kontakt zu weiteren Musikern, so auch beispielsweise
zu Ikue Mori, mit der ich damals auch einige Gigs spielte. Klar, ich versuchte
auch, meine herkömmliche Jazzarbeit weiterzuführen, aber aus
irgendwelchen Gründen gab es da kaum Gigs. Ich begann, Solokonzerte
zu geben und übte weiter wie besessen. Irgendwann dann lernte ich
Anthony Braxton kennen. Doch mittlerweile hatte ich viele Gigs in der
Downtown-Szene, unter anderem mit dem Soldier String Quartet, dem Sirius
String Quartet, mit Phillip Johnston, Joel Forrester, Bobby Radcliff,
dem Microscopic Septet und vielen, vielen anderen. Von den allermeisten
dieser Projekte gibt es keine Aufnahmen oder zumindest keine mit mir.
In dieser Situation dachte ich, dass ich zu meiner Arbeit als Komponist
und als Leiter eigener Bandprojekte zurückkehren sollte.
Jazzzeitung: Du bist in eine große Breite verschiedener
Stile involviert, von Free Jazz und konzeptionellen Sachen wie die Filmmusiken
Phillip Johnstons oder das Burt Bacharach-Projekt auf Tzadik bis zu Braxtons
eher „mathematischer“ Ästhetik. Was ist Deine ureigenste
Sache? Und welche Rolle spielen all diese verschiedenen „Sprachen“
für Deine künstlerische Entwicklung?
Norton: „Stil“ kann ein sehr heikles Wort
sein. Ich arbeite gern mit Phillip Johnston und Marie McAuliffe (das Bacharach-Projekt),
weil ich davon überzeugt bin, dass deren Musik interessant und originell
ist und weil sie meinen kreativen Beitrag sehr schätzen.
Jazzzeitung: Das Spielen von Braxtons Musik macht einen
gewichtigen Teil Deiner Diskografie aus. Welche Aspekte der Braxton-Musik
sind für Dich besonders anziehend?
Norton: Ja, Du hast recht. Und trotzdem ist es nur die
halbe Wahrheit. Beispielsweise beim ersten Mal mit Anthony, das war mit
dem Tri-Centric Orchestra drei Abende im Kitchen in New York City, spielten
wir Stücke für großes Orchester, unglaubliche Musik, und
großartige Konzerte – aber nichts davon wurde bisher je veröffentlicht.
Mehrere Jahre lang spielten wir zusammen jeden Mittwoch im Buttonwood
Tree in Connecticut: Anthony Braxton am Piano, Joe Fonda am Bass, der
Saxophonist Mark Whitecage und ich – nur sehr, sehr wenig von all
diesem Material wurde bisher offiziell veröffentlicht. Aber um auf
den Punkt zu kommen: Egal was wir gemeinsam spielten, ob Orchestermusik,
Jazzstandards, Trancemusik – Anthony bot stets so etwas wie eine
Herausforderung an, etwas, was man als Musiker durchdenken und üben
musste, er ermutigte mich immer, ich selbst zu sein innerhalb der Parameter
der jeweiligen Komposition, und er selbst gab immer alles, egal ob es
sich um Proben oder reguläre Konzerte handelte. Und so gab es bei
ihm keine Grenze zwischen dem Geistigen der Musik und der körperlichen
Ausführung. Diese Herangehensweise habe ich versucht, auch für
mich zu verinnerlichen.
Jazzzeitung: Seit einigen Jahren gibt es wieder eine
größer werdende Akzeptanz des Free Jazz. Sogar ein Buch hat
sich diesem Phänomen gewidmet: „New York is now! The new wave
of Free Jazz“ von Phil Freeman. Siehst Du das auch so? Und was sind
die Gründe?
Norton: Das Buch habe ich bisher nicht gelesen. Doch
das ist eine lange Diskussion. Ich glaube zum Beispiel, dass Europa im
allgemeinen immer für das aufnahmebereit war, was mit Free Jazz oder
Avantgarde Jazz bezeichnet wird – beides ziemlich begrenzende und
potenziell missverständliche Begriffe… Wenn man Cecil Taylor
oder das Art Ensemble of Chicago für „Free Jazz“ hält,
so ist das eher ein Gefühl, das auf die Leute zutrifft, und dieses
Gefühl dominiert über stilistische Aspekte. Die Popularität
beispielsweise der Jimmy Lyons Box Set scheint meine Argumentation zu
stützen, dass die „Free Jazz” genannte Musik in den Sechzigern,
Siebzigern und Achtzigern und vielleicht in alle Zukunft gespielt wurde
und wird.
Jazzzeitung: Als Drummer hast du auch – neben
vielen anderen – mit zwei wichtigen, aber stilistisch verschiedenen
Bassisten gespielt, mit Milt Hinton und Wilber Morris. Welche Erfahrungen
hast du dabei gemacht? Was bedeutet dir Wilber auch nach seinem Tod?
Norton: Noch mal: Ich würde die Ähnlichkeiten
zwischen beiden betonen (und heutzutage würde ich noch John Lindberg
auf die Liste der Bassisten setzen, mit denen ich sehr gern spiele und
die ich verehre).
Wie auch immer: Sowohl Milt als auch Wilber vermitteln ein großartiges
Gefühl, dass die Dinge fließend einfach sind. Damit meine ich
nicht, dass sie nicht etwa tornado-artige Energieeruptionen mit ihrem
Bass rausspielen könnten, aber das Besondere bei ihnen ist: Nichts
an ihrem Spiel wirkt bemüht. Beide sind sie ausgesprochene Team-Player
und ausgezeichnete Zuhörer. Und natürlich sind sie beide wundervolle
Menschen! Und das hört man irgendwie auch ihrer Musik an.
Jazzzeitung: Welche Projekte hast du für die Zukunft?
Norton: Das vielleicht aufregendste neue Projekt ist
mein „Bauhaus“-Quartett mit Dave Ballou (Trompete), Tony Malaby
(Saxophon), John Lindberg (Bass) und mir am Schlagzeug. Alle beteiligten
Musiker sind großartige Improvisatoren, sowohl im Jazzkontext als
auch im freien Spiel. Sie sind erstklassige Komponisten, sehr gute Zuhörer,
können vom Blatt wie aus dem effeff spielen und sind natürlich
menschlich gute Persönlichkeiten. Mit diesem Quartett will ich eine
Balance gestalten zwischen geschriebenem Material und Improvisation. Und
mit der bisherigen „Bauhaus“-Arbeit bin ich ganz glücklich,
habe ich doch das Gefühl, dass wir etwas schaffen, etwas aufbauen
können, was mit neuen Klangstrukturen und Soundgestaltungen zu tun
hat. Auch habe ich verschiedene Sachen für Streicher und Bläserensemble
geschrieben, schließlich habe ich Musik für mein Kevin Norton
Ensemble aufgenommen, genug für eine CD.
Mathias Bäumel
CD-Tipps
• Kevin Norton’s Living Language: Intuitive Structures,
Cadence Jazz 1166 (2004)
• Kevin Norton, Joëlle Léandre, Tomas Ulrich: Ocean
of Earth, Barking Hoop BKH-007 (2003)
• The Kevin Norton Quartet: The Dream Catcher (for Wilber Morris),
CIMP #280 (2003)
• Kevin Norton’s Metaphor Quartet: not only in that golden
tree..., Clean Feed 11 (2003)
• David Krakauer’s Klezmer Madness: Klezmer New York, Tzadik
TZ7127
• David Krakauer’s Klezmer Madness: A New Hot One, Label
Bleu LBLC6617 HM83
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